Essay von Rudy - 4.10.00

High Noon


I. Recht und Unrecht

High Noon. 12 Uhr Mittags. Zwei bodenlange staubige Ledermäntel stehen sich in ausreichender Entfernung gegenüber. Es würde ausreichen, wenn umherliegende Blätter auch nur den Versuch unternehmen würden, zu rascheln. Es würde ausreichen, die Ledermäntel hätten gezogen. Ausgang? Ungewiß!

Wie kommen die dazu, sich solch einer lebensbedrohlichen Situation auszusetzen. Kann man tatsächlich so dumm sein? Jedenfalls glaube ich, es passiert nicht rein zufällig und deshalb erlaubt es auch die Frage nach dem warum! (Wenn auch zunächst mal nur aus Neugierde. Tausend Autofahrer tun das gleiche, wenn sie auf der Gegenfahrbahn auch noch für Staus sorgen.)

Welche Ursache könnte es denn gehabt haben? Wenn z.B. der eine Ledermantel dem anderen zu dieser Jahreszeit die Scheune niedergebrannt hätte, so wäre der andere Ledermantel sicherlich in eine prekäre Situation geraten. Der Winter steht unmittelbar vor der Türe. Im mittleren Westen gab es noch kein Sozialamt und es war kaum damit zu rechnen, eine Versicherungssumme auszulösen oder den Brandstifter erfolgreich auf Schadensersatz zu verklagen. Also was bleibt anderes übrig, als Rache und Vergeltung. So sieht eine rudimentäre Form des Interessenausgleichs wohl aus. Auf der einen Seite gibt es einen Schädiger, auf der anderen einen Geschädigten. Die Situation läßt sich nicht mehr ungeschehen machen, die Lösung liegt in der „Abrechnung“.

Schaut man sich einmal den Schaden an, so ergibt sich dieser nicht nur unmittelbar in der Vernichtung irgendwelcher notwendiger oder überfüssiger Güter, sondern insbesondere wird ein Schaden von der betroffenen Person immer auch als massive Behinderung und einem tiefen Eingriff in die Fortführung des Strebens nach Existenzsicherung empfunden. Die Mühen, die sich ein Mensch alltäglich auferlegt, können nur erklärt werden in dem allgemeinen Bestreben als Mensch nach Vollkommenheit. Im besonderen heißt das dann Existenzsicherung. Dazu zählen ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln, ein Dach über dem Kopf und wohl auch eine Familie.

Meistens jedoch sind die Anlässe, die zu den Auseinandersetzungen führten, sicherlich wesentlich „banaler“. Jedenfalls für den außenstehenden Betrachter. Wenn einem im mittleren Westen z.B. der Ruf vorauseilte, der Schnellste zu sein, dann zog dieser Umstand alleine schon eine ganze Reihe lebensbedrohlicher Situationen nach sich. Dabei scherte es wohl auch niemanden, wenn der Schnellste nur die Notwendigkeit darin sah, schneller zu sein, weil er nur so seine Existenzsicherung auf-grund von zahlreichen Banküberfällen aufrecht erhalten konnte.

Mit Einführung von „Recht“ und „Gesetz“ wurden dann auch ganz folgerichtig diese Personen als „Gesetzloser“ tituliert. Das Recht wird zu einer abstrakten Ware. Vergeltung führt dann nur

über den Umweg des Gerichts/den Richter, nicht mehr nur über den Strang. Deshalb sagt man heute auch ganz schnell, obwohl vorverurteilend, ich hab „Recht“ und du hast „Unrecht“. Diese Formel wird genauso schnell gezogen, wie der Colt unter dem Ledermantel.

Jede Ware im Supermarkt hat ihren Preis. Der ist von jedem ganz einfach auf dem Preisschild nachzulesen. Dabei können sich Preise sehr wohl verändern. Und heute sollte jedem bewußt sein, daß ein Preis aufgrund von Angebot und Nachfrage zustande kommt. Die abstrakte Ware „Recht“ kennt jedoch kein ablesbares Preisschild, obwohl auch das Recht immer seinen Preis hat. (Der kann ganz schön hoch sein).

Zusammenfassend könnte man auch sagen, wir haben hier auf der einen Seite eine Ursache (Schaden) auf der anderen Seite eine Wirkung (z.B. GeRECHTigkeit). Ausdrücklich ist zu betonen, daß damit die eigentliche Ursache, warum überhaupt der Schaden ver-ursacht werden mußte, schon aus den Augen verloren ist.

Nun ist es aber auch so, daß u.a. N. Luhmann sehr ausführlich darauf hinwies, daß es „DAS RECHT“ nicht gibt. Das muß gesagt werden, weil es immer noch *Menschen gibt*, die das so glauben. Nach N. Luhmann gibt es nur schützenswerte Interessen und RECHT bekommt, wessen schützenswerte Interessen verletzt wurden. Er führt weiterhin sehr eindrucksvoll aus, daß es ja um zu sagen, was Recht und was Unrecht ist, einer Instanz bedarf, die, entgegen

herrschender Meinung, nicht in einer Instanz „außerhalb“ des Betroffenenkreises zu finden sei, sondern „diese Instanz“ die GESELLSCHAFT selbst ist. Genau deshalb ist es auch die Gesellschaft als Ganzes, die ständig das Votum für oder gegenüber dem abgibt, welche als schützenswerte Interessen zu verstehen sind. Das nennt der Fachmann dann im Zeitablauf u.a. Rechtsfortbildung, zwischen Legislative und Judicative. Daher ist das Rechtssystem ein funktionales Subsystem der Gesellschaft, in der wir leben. (N. Luhmann bezeichnet solche funktionalen Systeme als „autopoietisch“ (i.S.v. selbsterzeugend), weil sie sich durch fortwährende Eigenaktivität (hier: auf erlassener Gesetzte fußende richterliche Urteile) selbst erhalten. (Der „dumme August“ ist in dem Spiel wohl die Executive.)

Zufällig ist dieses System nicht, da die Demokratie unserer Zivilisation mit dem Anspruch angetreten ist, Machtansammlung wenigstens so weit zu brechen, daß sie sich als Person nicht

selbst erhalten kann, wenn man sie als Ursache für eigenverur sachte Schäden schon nicht per se ausschließen kann. So kann man sie mindestens zur Verantwortung ziehen.


II. Die Maslowsche Bedürfnispyramide

Wir rühmen uns der Zivilisation, um zu zeigen, wie wohltuend wir die Konflikte und Bedrohungen unserer Vorväter hinter uns gelassen haben. Wir rühmen uns, Konflikte nicht mehr mit den Fäusten oder der Waffe in der Hand austragen zu müssen. Wir rühmen uns, über die Umwege von Recht und Gesetz, von Sozialamt und Versicherung, dem Gefühl beraubt worden zu sein, zu wissen, was es heißt, physische Existenzangst zu erfahren. Oder doch nicht?

Was wir nicht gemerkt haben, ist vermutlich die Tatsache, daß sich die Bedrohung der physischen Existenz nunmehr nur auf eine andere Ebene verlagert hat. In der Maslowschen Bedürfnispyramide rangiert die leibliche Existenzsicherung an unterster Stelle. Wenn diese Befürfnisse als gesichert gelten, dann strebt der Mensch nach höherem. Ist es nicht das, was wir alle immer wollen?

Die nächste Stufe in der Pyramide: soziale Anerkennung. Und schon an diesem Punkt angekommen, erkennen wir mit Schrecken, wie in jeder auch noch so kleinen Gemeinschaft, die Glaubens- und Kreuzzüge des Mittelalters, sich 1 zu 1 wie-derholen. Nicht, das wir unserem Gegenüber nicht die Anerkennung gönnen, die er möglicherweise verdient hätte. Nein, wir sind doch alle Menschenfreunde – oder? Aber wie steht es denn mit der eigenen Anerkennung. Wer gibt mir wann und in welcher Form die Anerkennung, die ich mir als Mensch wünsche oder die ich zum Leben brauche? Ist es selbstlose Anerkennung oder verbirgt sich dahinter wiederum ein Interesse, an welches mich mein Gegenüber binden möchte? Ein Spiel auf Gegenseitigkeit? Der Anerkennende und der Anerkannte? Wofür, in welcher Form oder einfach nur so? Wir betrachten es als *legitimes* Mittel zur Durchsetzung von Eigeninteressen, je nach Bedarf Anerkennung zu verteilen oder zu verweigern. In der etwas schärferen Form nennt man es dann Mobbing, wenn aus der bloß versagten Anerkennung gezielte psychologische Behin- derung wird. In diesem Punkt erinnere ich mich an die abgebrannte Scheune. Hier findet dann eine Existenzbedrohung statt, die auf den sozialen Status zielt.

Dabei kommt uns ein Umstand zu gute, von dem zwar jeder instinktiv weiß, der aber von dem gleichen Nebel umgeben ist, wie z.B. ein fehlender Sheriff im mittleren Westen. Ich meine den Umstand der Beweissicherung und -führung. Im Zweifel für den Angeklagten, heißt es prinzipiell und jeder Täter beruft sich möglicherweise auf dieses Prinzip, bevor er seine Tat begeht. Der geschickte Rhetoriker weiß, daß er sagen kann was er will, Hauptsache er läßt sich nicht dabei erwischen. Ein Blick in die Tagespolitik erzeugt vorbildlich entweder Heul- oder Lachkrämpfe, je nach dem, um was es grade wieder geht. Als Kern könnte man allenfalls den sich ständig wiederholenden *Prozeß* selber identifizieren und sollte ihn dann stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Aber so weit sind wir wohl noch nicht, in unserer Zivilisation. Ich darf gespannt sein, wie man die heutige „Zivilisation dann nennen mag.

Denn, ein wenig komplexer wird es, wenn – und das ist schon für so manch höhere Intelligenz nicht mehr faßbar – die Anerkennungswaffe in Auseinandersetzungen sachbezogener Fragestellungen verwoben gedacht wird. Wir haben es hier also rein gedanklich in kommunikativen Auseinandersetzungen immer mit mindestens zwei Ebenen zu tun: der Selbstwertebene und der Sachebene. Erstere ist – so wird ganz selbstverständlich eingeräumt - Voraussetzung für eine produktive sachliche Ausein- andersetzung. Dies wird u.a. sehr anschaulich in der Transaktionsanalyse vorgeführt.

Die Crux der Transaktionsanalyse – und darauf habe ich bisher keine nennenswerte Lösung gefunden – ist, daß die Erkenntnisse der TA in der Kommunikation auf beiden Seiten gleichmäßig vorhanden sein müssen, sonst scheitert die Kommunikation trotzdem, zumindest, was das vermeintlich gewünschte Ergebnis betrifft. Es wird also Heute in Diskussionen ein ausreichender Anerkennungspegel (Selbstwertgefühl) bereits vorausgesetzt, sonst ist man per se ein unwürdiger Diskussionspartner. Solche Diskussionen könnte man auch als Disput bezeichnen und ich kann mich nur an einem Disput beteiligen, wenn ich anderswo mein Anerkennungsbedürfnis ausreichend befriedigt habe, ich psychisch stark genug bin. Wenn ich aber unmittel-bar in dem Disput meine notwendige Anerkennung einfordere, wird auf mangelnde Sachlichkeit hingewiesen, mir meine Anerkennung also messerscharf folgerichtig

just in diesem Moment verweigert. Man hat ja schließlich z.B. seinen Psychologen, der dafür bezahlt wird, mir mein Selbstwertgefühl wieder aufzupäppeln, damit ich wieder funktioniere.

Dann soll man doch zu dem gehen.

Ich frage mich nun ganz ernsthaft, ist Anerkennung zwischen den Parteien notwendiger Bestandteil einer Diskussion, oder ist sie das nicht? Peinlich, für den, der es öffentlich verneinen würde, er könnte keine lauteren Absichten mehr für sich geltend machen. Und wenn man es nicht öffentlich verneint, aber dennoch so meint? Dann braucht es eine gute Ausrede oder ein dummes Publikum. Aber ganz konkret. Ich kann mich an Zeiten erinnern, wo z.B. ein Händeschütteln ein einleitendes Ritual im Sinne von Ich-bin-ok Du-bist-ok war. Je mehr man dabei erstmal aufeinander zugehen mußte, um so besser. Schon das bloße Heben des Hutes vermittelt Distanz, wenn auch noch höflich. Ganz klar wird es, wenn man extra die Straßenseite wechselt. Wie sagt schon Watzlawick so treffend: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ (in: Watzlawick P., Beavin J. H., Jackson D. D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Verlag Hans Huber, Bern Stuttart Toronto, 8. Aufl. 1990. S. 50 ff.)

Es gibt mit Sicherheit tausend Spielarten ein und derselben Grundkonstellation. Und wir befinden uns neuerdings im Internet, wo man sich schlecht in die Augen sehen kann, geschweige denn die Hände zu schütteln. Aber an dem aufgezeigten Pro-blem ändert das
nichts.


III. Attention deficit disorder

Ich möchte nicht behaupten, daß das zuvor beschriebene Problem ganz alleine aufgrund von mangelhafter Aufmerksamkeit bisher keine Beachtung fand. Aber ich schätze mich in der überaus glücklichen Lage, diese Gedanken, die mich schon seit meiner Kindheit verfolgen, genau zu diesem Zeitpunkt an das schwarze Brett zu heften, weil genau hier der richtige Ort und die richtige Zeit dafür ist. Woanders wurde mir nämlich bisher gar nicht erst zugehört. (Aber wer weiß?)

Jedoch steht noch der Nachweis aus, was das denn mit ADD zu tun hat. Ich denke und ich gehe dabei einfach mal von mir und meinen Erlebnissen aus, jeder ernstlich Betroffene unter uns, kann einen großen Teil seiner Schwierigkeiten im Leben ganz allgemein an seinem vorhandenen

oder nicht vorhandenem Selbstwertgefühl abmessen. Das Selbstwertgefühl ist eine Art Indikator, wie ein Thermometer für die Raumtemperatur. Ich betrachte mein Selbstwertgefühl als Kristallisationspunkt meines derzeitigen Zustands meiner Existenz. Und dieses Selbstwertgefühl ist ein sozialer Tatbestand, weshalb viele ADDler auch lieber alleine sind, sich zurückziehen und als Außenseiter tituliert oder verunglimpft werden, damit dann aber für sich selbst besser zu Rande kommen, als sich in Beziehungen aufzureiben. Wer aber sagt, daß man zusammen mit Betroffenen besser zurecht kommen kann, als in der sonstigen Welt? Ich glaube, es geht nur, wenn, ja wenn man diese Zusammenhänge glasklar auf den Punkt bringt. Das wäre eine sachliche Aufgabe, die es erst mal zu lösen gilt, für uns und für die gesellschaftliche Akzeptanz des Phänomens ADD.

Die erste Stufe in der neuen Zivilisation ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Psychologie. Das war nicht immer so. Noch vor nicht allzu langer Zeit durfte man keine psychischen Probleme haben um gesellschaftsfähig zu sein. Dieser Zustand hat sich in soweit gebessert, als daß man heute ohne psychischen Schaden fast schon nicht mehr gesellschaftfähig ist.

Hingegen den Prozeß der Auseinandersetzung selbst ad absurdum führen zu wollen, kann nur zweierlei bedeuten. Pure Ignoranz, weil es zu anstrengend ist oder die Absicht der erfolgreichen Durchsetzung von eigenen Machtinteressen, die in dem Prozeß sicher- lich zur Sprache gekommen wären. Wie auch immer, das Ergebnis wäre das gleiche. Und wenn wir uns dann weiter über ADD unterhalten kommt dabei nur noch Ritalin zur Sprache und ein paar geringe Nebenschauplätze, was einem so alles widerfahren kann.

Ich denke, wir merken nicht, wie sehr wir uns im Pionierland befinden, wir sind Abenteurer im Verständnis dieser Welt. Und vielleicht wissen wir oder begreifen wir auch, daß wir ewig Abenteurer bleiben werden, wenn wir die Existenz verschiedene Abstraktionsebenen zu akzeptieren gelernt haben. Luhmann und Watzlawick lassen grüßen.


Empfohlene Literatur:

Luhmann, Niklas: Beobachtungen der Moderne. Westdeutscher Verlag, Opladen 1992
Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit.
Wahn – Täuschung – Verstehen. Pieper Verlag, München, 25. Aufl. 1999

auch gut, für Kunstfreunde:
Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. Benteli Verlag Bern

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