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23. April 2009


Es ist

4 1/2 Jahre

her


... seit diesem Kalenderblatt:




Die meisten von Euch kennen das Kalenderblatt nicht ... aber ich bin mir sicher, dass sich auch ein paar an das Interview mit der Cora erinnern.

Hier ist es nochmal zum Nachlesen (auch fast 5 Jahre später ein sehr menschliches Interview, ernst, wichtig, offen, lesenswert:


Meine Fragen in rot und Coras Antworten in blau.


Hallo Cora ...



... ich darf Dein Bild nur verfremdet zeigen, warum ?


Ja, warum eigentlich, eine gute Frage.

Weil ich unter einer psychischen Störung leide, die bis jetzt in der Gesellschaft noch sehr wenig akzeptiert und verstanden wird. Und weil bestimmte Menschen mich hier nicht erkennen sollen.


Vielleicht ist es so, dass die Menschen sich mit Dingen schwer tun, die ihnen selten begegnen. Was Du tust, hat eine Abkürzung ?

Ja, kurz nennt man es SVV.

Und das heißt ausgeschrieben ?

Selbstverletzendes Verhalten.

Selbstverletzendes Verhalten ... selbst verletzen ... Du verletzt Dich also selbst ?

Ja, das tue ich.

Du verletzt Dich körperlich ?

Ja, genau. Wenn es mir schlecht geht, dann schneide ich mich, meistens an Armen oder Beinen.

Jetzt könnte ich vordergründig sagen "wie kann man nur, der eigene Körper ist doch das Wertvollste, was man hat. Man sollte froh sein, wenn man gerade nicht verletzt ist".
Du wirst bestimmt auch öfter die Reaktion erfahren, dass man den Kopf schüttelt.

Oh ja, so reagieren viele. Ich gebe ja auch zu, dass es für andere völlig unverständlich sein muss. Wahrscheinlich hätte ich vor ein paar Jahren auch nicht anders reagiert. Aber inzwischen ist für mich mein Körper auch nichts Wertvolles mehr, sondern eher etwas, das ich hasse, was nicht richtig zu mir gehört. Ich denke, SVV hat immer sehr viel mit dem Verhältnis zum eigenen Körper zu tun.

Seinen Körper hassen ... das kenne ich auch von Magersüchtigen. Sie hassen zumindest ihren Körper, wenn er mehr als 40 kg hat. Bist Du auch magersüchtig oder ist das kein Thema ?

Ich war nie magersüchtig, aber eine Zeit lang essgestört. Das ist jetzt etwa 10 Jahre her, da gab es in meiner Familie sehr große Probleme. Und meine Reaktion darauf war, dass ich einfach aufgehört habe zu essen. Ich konnte einfach nicht mehr, mein Magen hat die Nahrung sozusagen verweigert.

Nach einem Jahr war alles wieder "normal", aber ich esse auch heute noch nicht wieder gerne. Essen ist für mich so etwas wie eine lästige Notwendigkeit.

Nun, ich kenn ja Dein Bild ... unverfremdet ... zwar nur den Kopf ... aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Körper darunter hassenswert ist.

Der eigene Körper sollte ja nie hassenswert sein. Aber manche weichen eben vom Aussehen her sehr von der Norm ab und hassen sich deswegen. Das schließe ich jetzt einfach mal bei Dir aus. Also muss man Deinen Grund des Hassens nicht in der Optik suchen, sondern woanders.

Richtig, der ist auch woanders zu suchen. Das ist allerdings eine lange Geschichte, willst Du sie hören?

Ja, schildere doch mal kurz Deine Geschichte:

Meine Mutter ist alkoholabhängig, mein Vater hat sie jahrelang betrogen. Ich hatte in dieser Zeit einige Beziehungen, die schlimmste vor drei Jahren. Mein damaliger Freund hat mich beschimpft, bedroht und am Ende vergewaltigt. Deswegen hasse ich meinen Körper.

Wie alt bist Du und seit wann verletzt Du Dich ?

Ich bin 23 Jahre alt und verletze mich jetzt etwa 3,5 Jahre.

Damit begonnen, als Dein Freund Dich vergewaltigt hat ?

Ja, genau.

Ich will jetzt nicht den Therapeuten spielen, dafür hab ich nicht die Ausbildung ... aber ich ziehe den Schluss, dass die Vergewaltigung bei Dir etwas ausgelöst hat ...

Ja, das hat sie sicher. Ich hab meine eigenen Grenzen verloren. Ich war nicht mehr in der Lage, über meinen eigenen Körper zu bestimmen, ich hab verlernt, Nein zu sagen.

Konntest Du denn vorher nein sagen ?

Naja sagen wir so: Es war immer schwer für mich, aber wenn ich etwas wirklich nicht wollte, dann hab ich mich auch durchgesetzt. Nach der Vergewaltigung war ich oft einfach wie erstarrt und konnte einfach nichts sagen.

Ich empfinde Dich als sehr nett, offen und intelligent. Und dass Du Dich selbst recht gut psychologisch einordnen kannst. Der logische Schluss in Deiner Situation wäre für mich, dass Du eine Psychotherapie machst und Dir helfen lässt.

Das ist richtig. Ich bin seit etwa 2,5 Jahren in Behandlung. Die ersten 1,5 Jahre war ich in einer Beratungsstelle und seit etwa einem Jahr habe ich einen Psychotherapeuten.

Mit welchem Erfolg ?

Ich würde sagen mit sehr großem Erfolg.

Ich lerne langsam wieder, meine Grenzen zu erkennen und sie auch durchzusetzen. Ich lerne Nein zu sagen, mir auch mal Raum für mich selbst zu nehmen.

Und ich kann inzwischen um Hilfe bitten, was ich früher nie konnte.

Klasse, kann ich dazu nur sagen ... Deine selbstverletzenden Attacken sind als heute weniger häufig als früher ?

Ja, sie sind seltener geworden, die Abstände größer. Es können jetzt Wochen oder sogar Monate zwischen den Verletzungen liegen.

Du hattest Dir damals die Hilfe alleine gesucht, oder wie kamst Du zur Beratungsstelle ?

Im ersten Semester musste ich an der Uni sehr viele Referate halten und ich hatte damals noch sehr große Angst, vor anderen zu sprechen. Deswegen habe ich einen Workshop gegen Sprechangst in dieser Beratungsstelle gemacht.

Dort habe ich den Psychologen kennen gelernt, bei dem ich 1,5 Jahre war. Ich hatte gleich Vertrauen zu ihm und hab deswegen einen Termin bei ihm gemacht, um mal einiges loszuwerden. Bis dahin hatte ich noch mit kaum jemandem darüber gesprochen.

Und heute ... weiß Dein Umfeld dass Du Dich selbst verletzt ?

Diejenigen, die mir wirklich nahe stehen, wissen alle davon. Meine Eltern wissen nichts davon.

Du hattest mich angemailt und mir dieses Thema vorgeschlagen ... und ich daraufhin Dir das Interview. Warum hast Du die Öffentlichkeit gesucht ?

Ich finde, SVV ist ein Thema, das in der Gesellschaft noch viel zu wenig bekannt ist.

Mir und einigen Freunden, die auch an SVV leiden, ist es schon so oft passiert, dass wir auf offener Strasse angesprochen und als krank oder Freaks bezeichnet wurden.

Das macht mich so traurig, denn hinter jedem SVVler steckt in der Regel eine Geschichte. Wir sind nicht gemeingefährlich, sondern im Gegenteil sehr verletzlich.

Gehen wir doch noch mal kurz auf das Selbstverletzen ein.

Du verletzt Dich, wenn es Dir nicht gut geht. Jedem Menschen geht es mal nicht gut. Und jeder Mensch hat eine andere Strategie, wie er das bewältigt. Frustkäufe, Besäufnis, Fressattacken ... oder man schreibt dunkle Gedichte, hört Musik oder joggt ...

... wenn man das jetzt mal provokativ betrachtet, dann ist der Schnaps, den man trinkt, wenn man den Blues hat, auch Selbstverletzung. Genau wie die drei Tafeln Schokolade. Man tut ja auch da seinem Körper nix Gutes. Auch die Frustkäufe sind nicht gerade für ein besseres Befinden danach zu gebrauchen.

Liegt der Schlüssel nicht darin, dass man den Problemen so begegnet, dass man sie "nicht" noch schlimmer macht, sondern dass man sie anders nutzt ?

Da hast Du sicherlich recht. Aber bei einigen Dingen ist es schwer, sie irgendwie zu nutzen.

Wie soll man eine Vergewaltigung zum Beispiel als etwas begreifen, aus dem man auch Positives ziehen kann? Am Anfang hadert man da schon sehr mit sich selbst und mit der Welt.

Und ab einem gewissen Zeitpunkt ist das Verletzen, wie eine Sucht. Da kann man nicht so einfach sagen: "Ich mach jetzt stattdessen mal was anderes."

Ja, hast recht ... das ist zu einfach, zu sagen, mach was anderes. Wenn da so einfach wäre, dann hättest du das ja auch getan.

Ja, das hätte ich.

Und wenn man es aus meinem Blickwinkel betrachtet, ist sich zu verletzen eine sehr einfach Lösung.

Ich muss zu niemandem gehen, und ihn um Hilfe bitten und so riskieren, dass er mir diese Hilfe verweigert. Und ich muss niemand anderen mit meinen Problemen belasten, ich kann alles allein mit mir ausmachen.

Was natürlich Quatsch ist, denn keiner kann ganz allein klarkommen, aber so denkt man.

Wofür ich aber gar keinen Grund sehe, ist die gesellschaftliche Ausgrenzung der Menschen, die sich selbst verletzen.

Das Verletzen fängt irgendwann an, wird dann langsam mehr und zur Gewohnheit. Daraus dann die Sucht. Viele Menschen sind süchtig und schaffen es nicht, davon los zu kommen.

Was also ist an der Selbstverletzung anders zu bewerten als am Rauchen. Beide schaden sich selbst. Nur ist das eine gesellschaftsfähig und das andere nicht. Weil Letzteres blutet ? Schmarrn in meinen Augen.

Dem Grunde nach habt Ihr einfach nur eine von vielen Süchten entwickelt. Diese schlimmer zu bewerten als andere Süchte, dafür gibt's es keinen Grund. Es gibt auch keinen Grund, mit dem Finger auf Euch zu zeigen. Ihr schadet niemanden außer Euch selbst.

Es gibt viel mehr Gründe, Euch offen zu begegnen, nach den Gründen zu suchen und über Hilfen zu informieren.

Das sehe ich auch so. Ich denke nur, für viele ist absolut nicht zu verstehen, wie man sich nur selbst verletzen kann. Und alles, was man nicht versteht, davor fürchtet man sich.

Dann haben wir jetzt hoffentlich einen Beitrag dazu geleistet, das Thema ein bisschen bekannter zu machen.

Noch eine Frage: würdest Du an Dich (hier in der Kommentarfunktion) gestellte Fragen beantworten ?

Gerne, wenn ich sie denn beantworten kann.

Dann bitte ich Euch, liebe Leser, wenn Ihr Fragen habt, diese einfach zu stellen. Oder allgemein über das Thema zu diskutieren.

Und Dir, Cora, danke ich sehr für Deine Offenheit. Ich würde sogar sagen: Vorbildfunktion.

Ich weiß, wie schwer der erste Schritt in die Öffentlichkeit ist, wenn man befürchten muss, dass man auf Ablehnung oder Kopfschütteln stößt. Doch nur Offenheit und Öffentlichkeit können an dem Kopfschütteln etwas ändern. Dafür danke !!

Bitteschön, ich danke!


  ...... 


Das war das Interview damals ... das ich aus gegebenem Anlass heute nochmal veröffentliche.

Denn Cora hat sich vor kurzem bei mir per Mail gemeldet und gefragt, ob ich mich an sie erinnere und ob mich interessiert, wie es ihr heute geht ... "ja, ich erinnere mich" und "natürlich bin ich interessiert" sagte ich ihr.

Cora fasste daraufhin die letzten 4 1/2 Jahre in ein paar Sätze zusammen:



Hallo Engelbert ... kurz zusammengefasst:

Ein Jahr nach dem Kalenderblatt starb meine Oma und 1 1/2 Wochen später plötzlich meine Mutter. Ich habe in den letzten 4 Jahren 4 nahe Familienangehörige verloren, mein Opa wurde vor einem Monat beerdigt.

Trotz allem habe ich mich seit damals nicht mehr verletzt - nie mehr.

Egal, wie schlecht es mir ging, ich hab alles auch so durchgestanden. Inzwischen habe ich meinen Masterabschluss, einen schön Job und bald meine erste gemeinsame Wohnung mit meinem Partner.

Klingt vielleicht alles nicht sehr spannend, aber für mich war es ein weiter Weg bis hierher und ich bin froh und stolz, dass ich das geschafft habe.



Da drauf kannst Du auch wirklich stolz sein ... ganz große Leistung von Dir !! Und ganz großes Vorbild, denn Du zeigst uns, dass der Weg von der Selbstverletzung in ein anderes Leben möglich ist. Ein steiniger Weg, aber man kann auf ihm laufen und er führt zum Ziel.

Vielen Dank für die Rückmeldung, mir wird grad ganz warm ums Herz :)).
 
 

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