6. Oktober 2012 |
Wenn etwas besonders schwer ist, dann muss man besonders sorgsam und
langsam vorgehen. Das war ein Grundsatz, den ihm schon sein Vater
beigebracht hatte. Jetzt muss er daran denken. Und dies hier zu ziehen,
fällt ihm sehr schwer. Kurz hält er inne und sieht sich nach allen
Seiten um. Während die Läden und Geschäfte ringsum nun geschlossen sind
und im Dunkeln liegen, sind die oberen Etagen der Häuser alle bewohnt.
Hier und da brennt noch das Licht. War da nicht ein Schatten hinter der
Gardine? Es ist durchaus möglich, dass er nicht unbeobachtet bleibt. Das
Rattern der Kunststoffräder der schweren Altpapiertonne auf dem
Kopfsteinpflaster könnte Aufmerksamkeit erregen und seinen schönen Plan
zunichte machen. Er öffnet den Deckel der Tonne. Sie ist bis unter den
Rand mit Zeitschriften gefüllt. Papier ist schwer. Bedrucktes Papier
wiegt manchmal viel schwerer als unbedrucktes, denkt er. Er nimmt die
oberste Zeitung in seine knochigen Hände mit den langen Fingern und
liest die Schlagzeile: "Unsere Stadt ist liebenswert". Ein bitterer Zug
spielt um seinen Mund. Liebenswert. Oh ja ! Er hatte diese Stadt
tatsächlich geliebt. Er war für sie da und hatte sich für sie
aufgeopfert. Sie hatte alles, was er an Kräften besaß von ihm abverlangt
und er hatte alles gegeben was er geben konnte. Am Ende verlor er alles!
Nun liebt ihn die Stadt nicht mehr. Sie kennt ihn nicht mehr. Sie hat
ihn mit vermeintlich wohlmeinenden Worten entsorgt, abgestellt und dann
vergessen. Er streicht über die Seiten der Zeitung. Im Grunde
unterscheidet er sich nicht von diesem alten und wertlos gewordenen
Papier. Einem plötzlichen Impuls folgend zerknüllt er die Zeitung, bis
sie die Form einer Kugel hat, und schließt seine Hände so fest darum,
dass ihm die Gelenke der Finger schmerzen. Alles Verräter und Schurken.
Alle käuflich und korrupt. Voller Zorn reißt er die Tonne um, sodass gut
ein Viertel der Füllung auf dem Boden landet. Wie ein trotziges Kind
steht er nun davor und betrachtet sein Werk. Das Kunststoffgefäß wieder
aufzurichten, bringt ihn an den Rand seiner Kräfte. Aber er schafft es.
Sein Atem geht schwer. Er ärgert sich über sich selbst, dass er seine
Wut nicht im Griff hat und nun unnötigen Lärm verursacht hat. Wieder
lässt er seinen Blick über die Fenster der umliegenden Häuser wandern.
Aber offenbar ist niemand auf ihn aufmerksam geworden. Entschlossen
packt er die Tonne am Griff und zieht sie nun ganz langsam, Stück für
Stück über das Pflaster. Aus dem Rattern wird ein leises Klackern, wenn
die Räder zwischen zwei Steine springen. So wird es gehen. Nur Geduld.
Er hat Zeit.
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