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27. Dezember 2016

Könnt Ihr Euch an die Geschichte

Weihnachten 1944

von Elisabeth J. erinnern ?

Wo der Vater aus dem Krieg zurückkam und die Familie dann doch mit Unterbrechungen durch Fliegeralarm gemeinsam Weihnachten feiern konnten ?

Es gibt noch eine Geschichte ... die von Elisabeths (mittlerweile verstorbenen) Mann Bernhard ... auch er hat über das Weihnachtsfest des gleichen Jahres eine Geschichte zu erzählen ... wie es damals bei seiner Familie war ... die Geschichte ist in ich-Form ...

... Bernhard erzählt:

Das Weihnachtsfest 1944 war sicher das Beeindruckendste meiner Kindheit - eigentlich kann man sagen: es war ein Wendepunkt, der das Ende meiner Kindheit ankündigte.

Um zu verstehen, wie es zu alledem gekommen ist, muss ich ein wenig ausholen.

Die ersten 10 Jahre meines Lebens verbrachte ich als Großstadtjunge in Dortmund. Unsere Familie (Vater, Mutter, wir drei Kinder) lebte mit den Großeltern, Eltern meiner Mutter, zusammen in deren Wohnung.

Sie hatten uns zwei Zimmer abgetreten und mein Vater hatte einen kleinen Anbau (zum Glück wohnten wir im Parterre), der hinten zum Hof hinausging ausgebaut, und so hatten wir ein wenn auch unheizbares Zimmerchen dazu bekommen.

1939 (da war ich 6 Jahre alt) verließ uns die Großmutter, um ihre schwerkranke Tochter Liesel zu pflegen und deren 6 Kinder zu versorgen. Das Leben mit dem Großvater war nicht leicht.

1942 wurde mein Vater eingezogen und kam nur noch selten nach Hause. Nicht einmal Ostern 1943, als mein jüngerer Bruder Engelbert zur Erstkommunion ging, konnte er dabei sein.

Und auch nicht, als wir im Sommer 1943 die Aufforderung erhielten, uns mit soviel Gepäck, wie wir tragen konnten, auf dem Hauptbahnhof einzufinden. Damals war ich 10 Jahre alt, mein Bruder 8 und meine Schwester Hildegard 6 Jahre. Wir sollten evakuiert werden, da Dortmund immer mehr gebombt wurde. Zumindest hatten wir es nicht weit, wir wohnten ganz nah vom Bahnhof, was natürlich eine gefährliche Lage im Krieg war. Die Bahnhöfe der Industriestädte waren ein bevorzugtes Ziel der Bomben. Auch unser Großvater packte seinen Koffer und begleitete uns.

Es begann eine lange Fahrt in Richtung Sauerland. An vielen Stationen hielten wir an, und es kamen die Bürgermeister oder Ortsvorsteher an den Zug, und suchten sich die Familien aus, die sie in ihrem Ort unterbringen konnten.

Schließlich kamen wir auch an die Reihe. Der Bahnhof lag in Laasphe und wir wurden auf einem Pferdekarren in eine kleines Dorf, Puderbach, gebracht, das etwa 7 km entfernt lag. Damals nicht und noch bis heute nicht gab es einen Bus, der das Dorf mit den umliegenden Ortschaften oder wenigstens mit Laasphe verbunden hätte.
Im Dorf angekommen, hatten wir erst mal eine böse Überraschung: Wir wurden getrennt. Mutter mit meiner kleinen Schwester kam zu dem einen Bauern und der Großvater und wir beiden Jungen zu einem andern.
Dem Großvater gefiel das Ganze überhaupt nicht, er packte seinen Koffer und machte sich auf den Weg nach Laasphe und zurück nach Dortmund.

Er hatte Mutter versprochen, alle ihre Möbel und ihr restliches Hab und Gut zu verpacken, auf einen Güterwagen der Reichsbahn zu bringen und dafür zu sorgen, dass das alles in Laasphe ankam.
Er hielt sein Versprechen, was sicher nicht leicht war, und drei Tage lang standen die ganzen Sachen auf dem Hauptbahnhof in einem Güterwagen. Noch war kein Zug zusammengestellt worden, der die Sachen weitertransportierte.

Dann kam ein furchtbarer Angriff, Das ganze Viertel um den Bahnhof herum wurde vollständig zerstört. Mein Großvater hatte das nackte Leben und seinen Koffer retten können; er war in einen Bunker gegangen. Er hatte sonst ALLES verloren. Der Bahnhof war wie durch ein Wunder kaum getroffen und nach einiger Zeit kamen alle unsere Sachen an.

Inzwischen hatte meine Mutter sich durchgesetzt und auf einem andern Bauernhof zwei ziemlich große Zimmer bekommen. Der Wasserkran war auf dem Flur und die Toilette auf dem Hof: Aber wir waren wieder zusammen und sie verstand es, mit ihren Möbeln und andern Dingen die Wohnung gemütlich zu machen. Mein Vater kam uns besuchen, er meldete uns alle in Puderbach/Laasphe an. Unser Zuhause in Dortmund gab es nicht mehr. Weihnachten 1943 bekam er keinen Heimaturlaub und war überhaupt nur drei mal in Puderbach.

Unsere Familie fühlte sich wider Erwarten wohl in Puderbach, einem Ort mit etwa 300 Leuten. Die Umstellung war groß, z.B. von einer mehrgliedrigen Volksschule nun in eine einklassige Dorfschule, wo alle Jahrgänge nach einem ausgeklügelten Plan in EINEM Klassenraum unterrichtet wurden. Aber das Dorfleben bot mir viel Abwechslung, ich bekam einen ganz andern Bezug zur Natur.

Das ist eigentlich die Vorgeschichte ... jetzt ein Sprung in die Adventszeit 1944.
Mein Vater hatte uns Wochen vorher ein Foto von sich geschickt ...



... und geschrieben, dass er wahrscheinlich wieder nicht zum Weihnachtsfest da sein konnte. Er bat darum, dass wir ein aktuelles Foto von uns machen lassen sollten und ihm schicken.



Links das bin ich.....

Wenige Tage vor Weihnachten bekamen wir plötzlich Feldpost und er schrieb, er würde DOCH Weihnachten kommen. Die Freude war groß. Er käme am 24.12.1944 nachmittags am Bahnhof Laasphe an.

Es war ein sehr schneereiches Jahr. Keiner von uns hatte lange Hosen. Wohl lange Strümpfe... auch wir Jungen und hohe Schuhe. Wir stapften durch den Schnee ... 7 km von Puderbach nach Laasphe. Nichts war geräumt. Wir zogen einen Schlitten, auf dem meist meine kleine Schwester saß.
 
Der Weg schien keine Ende zu nehmen. Es war dunkel und kalt. Aber wir freuten uns so sehr auf unsern Vati. Mutti meinte, man wüsste zwar nie genau, WANN die Züge ankämen, aber sie hoffte, dass wir rechtzeitig da wären. Um uns bei Laune zu halten, sang Mutti mit uns Weihnachtslieder.

Nun waren wir schon ziemlich nahe an Laasphe, da sahen wir plötzlich eine Gestalt auf uns zukommen. Sie erschien uns riesengroß und ungeheuer dick. Die Dunkelheit und auch der Schnee, der ständig fiel, verzerrten die Formen. Mein Bruder schrie: “Ein Ungeheuer!” Meine Schwester fing an zu weinen ... ich versuchte tapfer zu sein - war schließlich der Älteste und schon 11 Jahre alt. Da sagte Mutti plötzlich:

“Kinder - es ist der Vater!”

Er sah so unförmig aus, mit seinem dicken Mantel, der Soldatenmütze, dem großen Rucksack, woran noch Helm und Essgeschirr hingen und eine Decke gerollt festgebunden war. Außerdem hatte er sein Gewehr bei sich.

Wir stürmten auf ihn zu, so gut das ging und wir waren sooo glücklich ... unbeschreiblich. Sein ganzes Gepäck legte er auf den Schlitten, irgendwie passte meine kleine Schwester auch noch drauf und dann zog er den Schlitten. Der Weg zurück war auch schwierig, aber unsere Herzen waren so leicht.

Es wurde ein wunderbares Weihnachtsfest. Mit Tannengrün und Kerzen, mit Liedern und Gedichten. Und immer wieder klammerten wir uns an den Vater und er musste erzählen. Er erzählte sorgsam zensierte Geschichten. Allerdings hatte er es bis dahin relativ gut gehabt; er war Besatzungssoldat in Norwegen gewesen.

Am zweiten Weihnachtstag sagte er zu mir: "Berni, wir beide gehen mal spazieren!". Ich war froh und stolz, die beiden Geschwister sahen uns etwas unglücklich nach.

Er sagte mir, er habe bereits den Befehl erhalten sich bei einer Truppe zu melden, die an die Ostfront geschickt würde. Und dann sah er mich ernst an und sagte: "Berni, ich werde wohl nicht wiederkommen! Du bist der Älteste, pass auf Mutti und die beiden Kleinen auf. Ich verlasse mich auf Dich!"

Ich konnte nicht antworten, ein Kloß saß mir im Hals.

Dann nahm er seinen silbernen Siegelring ab, worauf die Initialen B J eingraviert waren. Den hatte er sich als junger Mann mal gekauft. Es sind ja auch MEINE Initialen. Den schenkte er mir ... da wurde mir erst so richtig klar, was er vorher gesagt hatte: dass er wahrscheinlich nicht wiederkommen würde ...

Ich weiß nicht, wie ich den Abend und die Nacht verbracht habe ... am 27.12. musste er sich wieder auf den Weg machen. Wir brachten ihn alle zum Bahnhof.

Und er hatte recht: Er kam nicht wieder. Im März 1945 erhielten wir die Vermisstenmeldung. Nach dem Krieg versuchte meine Mutter jahrelang, verlässliche Nachrichten zu bekommen über das DRK. Vergeblich.
Anfang 1952 wurde er dann für tot erklärt.

Aber ich habe es immer als Geschenk betrachtet, dass er Weihnachten 1944 noch bei uns war.


So traurig die Geschichte ist, so gab es doch unendlich viele ähnliche Schicksale in der damaligen Zeit. Weil sie so traurig endete, hatte ich sie nicht im Adventskalender, der ja einer der VorFREUDE ist, veröffentlicht ... aber jetzt nach Weihnachten ist es doch mal wichtig, auch eine solche Geschichte zu zeigen.

Jetzt kann ich auch sagen, dass Elisabeths Opa, der in der anderen Geschichte so schön Geige gespielt hat, an diesem Weihnachtsfest zum letzten Mal Geige gespielt hatte, weil er danach verwundet wurde und nie wieder dieses Musikinstrument spielen konnte.

Weihnachten 1944 ... so ganz anders wie heute, 72 Jahre später ...

    

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