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11. Dezember 2008




heute:

Karla

stille Nacht, heilige Nacht


Karla schreibt:

In der Kirche schreiten die Krippenspieler durch den Mittelgang. Joseph fasst den Hirtenstab fester. Einen Arm um Maria gelegt, atmet er auf. Könige, Hirtenvolk, Wirtsleute, Kinder sind froh, dass ihr Spiel zu Ende ist. Von der Orgelempore ertönt "Oh, du fröhliche ...". Das Jubilieren einer Solotrompete gehört in der kleinen Stadt zum Schluss der Christvesper. Besucher nehmen seit Jahren den Klang mit hinaus in die Heilige Nacht.

Schnell sind die Instrumente des Posaunenchores eingepackt und auf der Orgelempore verstaut. Mein Mann ist Chorleiter und nimmt sein Instrument mit ... weiß er doch, dass er heute noch einmal Trompete blasen wird. Wie jedes Jahr. Ich warte am Hauptportal.

Glocken läuten.
Menschen begrüßen einander. Auch jene, die sonst kaum den Mund aufbringen.
Es schneit.
Scheint immer kälter zu werden.
Sternenhimmel.

Ich suche tatsächlich den Stern von Bethlehem.
Mein Mann lacht verhalten ... sie soll ihre Romantik haben ...

Autos schleichen auf glatter Straße. Dunkle Linden mit mächtigen Stämmen säumen sie. Schneebedeckt die Friedhofsmauer, das Tor, die kleine Kirche. Alles dunkel. Nur der Adventsstern im Obergeschoß des Wohnhauses leuchtet.

Doch was ist das? Wir bleiben am Friedhofsberg stehen. Spuren im Schnee erschrecken uns nicht. Am Heiligabend kommen Trauernde oft spät zum Friedhof, legen Blumen aufs Grab, zünden eine Kerze an.

Für diese Besucher musiziert mein Mann. Meistens vom Balkon aus.

Vom Balkon ? Wohnen wir denn in der Nähe des Friedhofs ? Nein ... wir wohnen "auf" dem Friedhof. Das ist hier in Sachsen gar nicht so ungewöhnlich. Hier gibt es auf größeren Friedhöfen ein kleineres Haus, in dem der Friedhofsgärtner (viele sagen auch Totengräber) wohnt, direkt bei seiner Arbeit (so wie der Pfarrer ja auch neben der Kirche wohnt). In einem solchen kleinen Haus haben wir von 1971 bis 1998 gewohnt. Fast 30 Jahre auf dem Friedhof und eben so viele Weihnachtsfeste.

Es ist also der Balkon unseres Hauses, von dem aus mein Mann am Heiligen Abend für die Besucher des Friedhofs Trompete spielt.

Aber noch sind wir nicht dort ... der Friedhof liegt erst vor uns.

Ich höre Gesang ... ist das nun meine blühende Phantasie ? Nein, mein Mann hört ebenfalls, wie gesungen wird ... was mich erleichtert.

Der Friedhof liegt auf dem Berg ... und jetzt, auf dem Berg angekommen, sehen wir ein kleines Feuer. Und Kerzen. Rund um ein Grab unter einer Linde sitzen Jugendliche. Die einen halten ihre Hände übers Feuer, die anderen versuchen, das Kerzenlicht vor dem Schneegestöber zu schützen.

Sie singen "ich steh an deiner Krippen hier ..." ... bis zum dritten Vers haben alle den Text im Kopf.

Wir stehen, schauen zu, staunen und summen mit.
Zögernd nähern wir uns der Gruppe.

Meinem Mann fällt es wie Schuppen von den Augen ... dieses Grab hatte er im Februar ausgehoben. Beim Zuschaufeln musste er an die Eltern und den Bruder des Toten denken. An das Entsetzen, als sie die Nachricht vom Lawinenunfall bekommen haben. Bei der Trauerfeier hat er die Freunde in ihrer Hilflosigkeit gesehen.

Ohne Worte öffnen die jungen Menschen ihren Kreis.
Wir singen mit.
"Stille Nacht, heilige Nacht" auf dem Friedhof.

Ich lade die Jugendlichen ein ... "bringt eure Kerzen mit. Im Haus ist es warm. Das Abendessen reicht für alle" ... "löscht euer Feuer" bittet mein Mann und dann gehen wir alle ins Haus.

Kaum im Haus, ziehe ich schnell den Tisch aus ... wen kümmert es, dass im Tafeltuch noch Falten sind? Stühle werden von der Küche geholt ... aber schnell mit dem Geschirrtuch über das selten benutzte Porzellan zu fahren, kann die Hausfrau dann doch nicht lassen ;)).

Gut, dass reichlich Kartoffelsalat da ist. Würstchen ebenfalls.

Zweige auf den Tisch
Kerzen
die guten Gläser
das gute Besteck

... sie kommen.

Schütteln im Vorraum den Schnee von ihren Jacken, klopfen die weiße Pracht von ihren Schuhen und achten auf ihre Kerzen. Einer hält des anderen Kerze, wenn der sich auszieht. Jeder will die kalten Mützen und Jacken los werden.

Mein Mann zündet die Kerzen am Schwibbogen an.
Auch am Christbaum sind echte Kerzen.

Die Jungen und Mädchen treten leise ins halbdunkle Wohnzimmer. Vorsichtig strecken sie ihre Hände aus. Die ersten zünden mit ihren Kerzen die oberen Kerzen des Christbaumes an. Die letzten bücken sich und lassen die weit ausladenden, unteren Zweige leuchten.

Verlegen, ihre Kerzen noch immer in Händen, stehen sie um den Tisch.

Schnell holt mein Mann ein paar Kerzenhalter. Die farbigen, die glitzernden, aus Holz, Metall, die kitschigen, die groben. Sie liegen alle in einem Karton auf der Kellertreppe. Sollten nach Weihnachten entrümpelt werden. Jetzt stört es keinen, dass sie nicht stilecht sind. Die Kerzen der Jugendlichen finden in ihnen Platz.

Das Licht der Kerzen spiegelt sich in den Fensterscheiben.

Ich komme aus der Küche, den dampfenden Topf mit den Würstchen tragend. "Lassen Sie den doch gleich auf dem Tisch, da bleiben sie heiß", sagt ein Mädchen, lächelt und fügt an "wir machen das immer so".

Das Tischgebet hält einer der Jungen. Mein Mann und ich, wir sehen uns an ... spüren die jungen Menschen, dass dieser Heilige Abend ein Geschenk ist ? Ein Geschenk für uns Eltern, deren erwachsene Kinder nicht mit uns Weihnachten feiern wollen.

Die da um den Tisch sitzen, wissen nichts von unserem Kummer. Sie langen kräftig zu, schnuppern in Richtung Küche. Es duftet nach Glühwein. Wie hat mein Mann den nur so schnell zusammen gebraut? Ich kann kaum etwas essen ... bin nachdenklich. Höre die jungen Stimmen ... sehe die Kerzen. Geschenktes Licht. Es leuchtet hinaus auf den Friedhof.

Als mein Mann später die jungen Gäste zur Tür bringt, sieht er, dass sie noch einmal zum Grab gehen. Schnell holt er seine Trompete ... leider lässt sich die Balkontür im Obergeschoß nicht öffnen. Eine Schneewehe. Er geht zum Fenster. Öffnet es weit nimmt seine Trompete.

Noch einmal "Stille Nacht, heilige Nacht".
Ich sitze in der Nähe des Weihnachtsbaumes. Die Kerzen sind noch nicht erloschen.

 
 



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