Reif
Der Reif war am Morgen gekommen. Noch eh die Sonne zögerte sich zu
zeigen, da sie es nicht erachtete überhaupt sich zu erheben, legte er
seine Ketten von kleinen Saphiren, seine wertvollsten Perlen um die
Knospen der Kastanie. Er ließ sich fangen von jedem Ding an der Straße,
offenbarte die Verstecke der dicken Herbstspinnen, umfasste gespannte
Drähte mit zarter aber eisiger Hand wie ein Verstorbener, der die Nacht
nicht mehr ganz erlebte.
Reif konnte berühren. Nicht nur durch seine Filigranarbeiten, mehr noch
jene, die aufmerksam sahen, was ohne ihn im Unsichtbaren lag. Ein
Maschendrahtzaun wurde plötzlich „sichtbar“, ein Draht zwischen zwei
Wäschepfählen eine Silberschnur, die im Morgennebel verschwand. In den
Gräsern am Teich ließ er keines aus bei seinem Besuch, setzte sie alle
in so feines Weiß, dass sie sich selbst kaum wieder erkannten. Die
Schwellen zwischen den Schienen offenbarten mit einemmal Strukturen im
sonst allgegenwärtigen Braun, ihre Schrauben, die sie an die Schienen
drückten erklärten sich zu Freien und ließen die Züge über sich hinweg
donnern ohne sich zu beschweren.
Es musste ein Meister gewesen sein, der so etwas vollbrachte und sich
die Mühe gab, die rechte Temperatur und Wasser zu finden, um sein Werk
zu zeigen. Im Wasserspiegel des Teiches bildeten sich Sprünge über dem
Ungrund, und allem was jetzt nicht getaucht war, wurde ab jetzt der
Zugang in die Tiefe verwehrt. In gewisser Weise war er begehbar
geworden. Auf den Zehenspitzen gedankenoffene Winterfreude, die jetzt
schon trug nach nur einer Nacht Reif.
Eine ganze brach liegende Wiese senkte in Trauer ihre
Sommerherrlichkeit, und sah ihre Verlierer als verwelkte Rispen und
Blüten plötzlich im Morgenlicht. In diesem ganz anderen Licht, das von
einer fahlen Sonne die Szene belächelte, doch ohne sie zu berühren.
Kraftlos gab sie sich nicht einmal die Mühe, es selbst an den feinen
Stielen tauen zu lassen. Relativ uninteressiert ließ gerade sie, die
Allmächtige, Stille sein.
Als Spurensucher des Winters hörte ich das Pergament unter den Füßen
tuschen, das Gräserbrechen, und hinterließ meine eigene Spur. Das Profil
eines Menschen auf der Suche nach einem Motiv im Gras. Eine gelungene
Aufnahme mit der Kamera oder doch zumindest die in eine neue gereifte
Welt, die aus dem Sommer gelernt hat, an das Absterben nicht denken
wollte, und wenn, dann an eine Art Wiederauferstehung in Würde. In
gleicher Würde wie eine Wiese, die durch Spinnenpfad und Mauseloch im
Gleichklang schien zwischen ihren Büscheln und vergossenen Sonnenblumen,
umrandet von einem Draht aus menschengemachter Zweckmäßigkeit. Wie
einfach der Draht, dachte ich mir noch und auch wie zauberfein die
Wiese.
Ich spürte schon die Aufgeregtheit auf einen in weiter Ferne liegenden
Frühling, der im Süden Sommer hieß zur gleichen Stunde. Und alles nur,
weil einmal in Bewegung gesetzt, die dicke Kugel es nicht dabei beließ
sich nur einfach zu drehen, sondern auch noch zu kippeln wie ein alter
Schaukelstuhl, aus dem der Sommer zu schnell gestiegen war. Einige
seiner Lieblinge mitgenommen, die ihm nach schwärmten bis in Afrikas
Savannen.
An alle Winterschläfer sei gedacht was sie verpassen, was sie nicht
glauben würden. Die Tage des Sturms und Regens nicht mitgerechnet, nicht
die frostiger Finger und rutschiger Strassen, tränender Augen und
Kamillentee. Wer wach wird und geblieben ist, geht diesen Weg der
Schönheit und hört das Glucksen unter der Bacheisdecke und sein leises:
"Warte" ...
© Burkhard Jysch
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