Die
Seelenfärbler-Weihnachtsgeschichte
heute: eine Geschichte von Karin v.N. ... sie erzählt:
Und es begab sich ...
... dass der erste Schnee des damaligen Jahres einen Tag vor dem
Heiligen Abend fiel.
In dicken Flocken schwebte er lautlos vom Himmel und hüllte die graue,
leicht schmutzige Winterlandschaft in ein zauberhaftes weißes
Daunenkleid. Sinnend stand ich am Fenster und sah zu, wie sich Wiesen,
Sträucher und Bäume langsam in einen samtenen Mantel aus Schnee hüllten.
Alles sah so weich, rein und sauber aus.
Dieser Zustand würde sich nicht lange halten, das wusste ich. Die
fahrenden Autos würden den Schnee rasch in grau-braunen Matsch
verwandeln und die Bürgersteige müssten geräumt werden. Die ersten
Schneeschaufeln waren schon am Werk und man hörte das kratzende
Geräusch, das sich unangenehm ins Haus übertrug. Schade um die weiße
Pracht!
So plötzlich, wie der Schneefall eingesetzt hatte, waren auch die Kinder
auf der Straße. Eingepackt in bunte, dicke Winteranoraks, Kapuzen oder
Mützen auf dem Kopf, zogen sie ihre Schlitten hinter sich her. Hier am
Niederrhein, dem Industriegebiet so nahe, ist es nie sicher, dass der
Schnee lange hält. Außerdem gibt es wenige Anhöhen, die für eine kurze
Schlittenabfahrt geeignet wären. Aber das stört die Kinder absolut
nicht. Sie toben fröhlich herum und bewerfen sich gegenseitig mit
Schneebällen.
Drüben, auf dem Bolzplatz neben dem kleinen Wäldchen liegt noch ein
großer Haufen roten Splitts. Ursprünglich für den Platzbelag gedacht,
hat der Frost ihn hart werden lassen. Schneebedeckt dient er den Kindern
nun als Abfahrt für ihre Rodelschlitten. Unermüdlich klettern sie auf
der einen Seite hinauf um dann die kurze Abfahrt zu genießen. "Ich komm
viel weiter als du!" spornen sie sich gegenseitig an und die Augen
leuchten, wenn ihr Schlitten tatsächlich einen halben Meter weiter fährt
als der des Vordermannes.
Mein 9-jähriger Sohn ist auch unter den Kindern. Mit feinem
Schleifpapier und einer Speckschwarte bewaffnet hat er die Kufen des
Schlittens präpariert und sich in den Wettbewerb um die weiteste Abfahrt
eingereiht.
Ich widmete mich der Hausarbeit und bereitete das Mittagessen vor. "Ihr
Kinderlein kommet, oh kommet doch all" ... schön, dass der
Regionalsender mal ein richtiges Weihnachtslied spielt. Überall hört man
- wenn überhaupt - nur englische, rockige Weihnachtsmusik im Radio.
Es klingelt an der Haustür. Der Junge ist es. Er zieht sich die
Schneestiefel aus und geht ins Wohnzimmer. Nach einer kleinen Weile will
er klammheimlich wieder hinaushuschen. Die Hände seitlich hinter seinem
Rücken versteckt, will er irgendetwas rausschmuggeln. Das klappt
natürlich nicht. Unter meinem prüfenden Blick zeigt er schließlich den
Inhalt seiner Hände: Weihnachtsplätzchen aus der Keksdose.
"Für einen Freund. Der hat Hunger, Mama!"
Die Füße mit den schon feuchten Socken rutschen wieder in die Stiefel
und schwups, ist er draußen. Freund meines Sohnes wird man schnell. Er
ist gutmütig und lieb, sieht wenn Hilfe nötig und ist bereit, sie auch
zu geben.
Auf dem Herd kochen zischend die Kartoffeln über. Fluchend zieh ich den
Topf beiseite und säubere die Platte. Wieder klingelt es an der Haustür.
Wer in Dreiteufelsnamen ist das schon wieder?
Erneut mein Sohn.
Dieses Mal soll es eine Thermoskanne mit Tee sein. Verwundert über sein
Ansinnen frage ich ihn, für welchen "Freund" er das denn alles haben
wolle.
Der Junge druckst herum. Schließlich kommt heraus, dass drüben am
kleinen Wäldchen seit gestern ein schmuddeliger Nichtsesshafter sein
Domizil aufgeschlagen hat. Er schläft unter dem kleinen hölzernen
Spitzdach, welches auf dem Spielplatz den Kindern als Hütte dient. Die
nächtlichen Temperaturen sinken bereits seit Tagen weit unter den
Gefrierpunkt.
"Mama, der arme Mann hat kein Bett und keine Decke. Er war schon beim
Pastor, aber der hat auch für ihn keinen Platz. Kann er nicht bei uns im
Hobbyraum schlafen, damit er es wärmer hat zu Weihnachten?"
Heiß steigt mir das Blut in den Kopf. Das Herz beginnt zu klopfen.
Was machst Du jetzt, liebe Mutter? Du, die ihren Kindern immer
Nächstenliebe gepredigt hat? Jetzt bist Du aber in der Bredouille,
Mädchen!
Die Gedanken fahren Karussell. Man kennt diesen Menschen doch gar nicht.
Wie oft liest man in der Zeitung von Verbrechen die sich ereignen, von
Mord und Totschlag während des Schlafes? Angst um Hab und Gut stellt
sich ein. Was, wenn dieser Fremde uns während wir schlafen das halbe
Haus leer räumt und morgens mit Sack und Pack verschwunden ist?
Wahrscheinlich schleppt er uns sogar noch Ungeziefer ins Haus?
Der Blick des Jungen bettelt und bettelt. Mensch, fällt dir denn keine
Lösung ein, du ängstliche Mutter eines barmherzigen Kindes?
Dann plötzlich weiß ich, wie man es handhaben kann.
Auf dem Dachboden suche ich den alten Schlafsack heraus, der zwar warm
ist, aber nicht mehr ganz so schön aussieht. Die alte Campingliege ist
auch nicht mehr die tollste, tut aber noch gute Dienste. Im Keller steht
noch, versteckt hinter den Getränkekisten ziemlich verstaubt, der kleine
Heizlüfter. Auch die blaue alte Wolldecke könnte man missen. Der große
Karton vom neuen Fernseher ist stabil und kann zum Nachtschrank
umfunktioniert werden.
Ich schäme mich etwas, als ich die beiden teuren, noch ziemlich neuen
Fahrräder aus der Garage in den Hobbyraum befördere. Vielleicht stiehlt
der Mann ja doch?
Dann wird es mich leichter ums Herz, als ich das kleine Auto aus der
Garage hinaus auf die Straße in den frischen Schnee fahre, um für den
Nichtsesshaften eine warme Übernachtungsmöglichkeit darin zu schaffen.
Natürlich ist es in der Garage ziemlich rumpelig. Aber was ist die
Unordnung im Vergleich zu einer warmen Übernachtungsmöglichkeit?
Gegen frühen Abend ist es dann soweit.
Die Liege ist aufgestellt, der Schlafsack und die Wolldecke liegen
bereit. Den Pappteller mit Gebäck auf einer Weihnachtsserviette, eine
Flasche Wasser und eine Flasche Rotwein, ein paar Bierknacker und
Brötchen habe auf den "Nachttisch" gestellt. Die alte Thermoskanne ist
voll mit heißem Tee.
Fröhlich läuft der Junge hinüber zum Wäldchen, um seinem "Freund"
Bescheid zu geben. Das Garagentor ist nur angelehnt und nicht
abgeschlossen. So kann der Besuch sein Nachtlager einnehmen, wann immer
es ihm passt. Ich gehe auch selbst hinüber, treffe ihn aber nicht an.
Als ich später am Abend ins Kinderzimmer komme um Gute Nacht zu sagen,
flüstert mir der Junge ins Ohr: "Jetzt ist mein Freund auch schlafen
gegangen, ich hab ihn gerade kommen sehen" und seine Augen strahlen vor
Freude.
Mit meinem Mann geh ich dann noch zur Garage, um den Gast zu begrüßen.
Er hat es sich schon auf der Liege bequem gemacht, freut sich über die
Aufnahme und bedankt sich mit feuchten Augen, als ich ihm sage, dass er
Schlafsack und Decke gerne mitnehmen kann.
In aller Frühe ist mein Sohn wach. Blitzschnell hat er sich angezogen
und saust zur Garage. Ich geh mit ihm, doch der Gast ist schon nicht
mehr da.
Stattdessen sehe ich: Ordentlich hängen in Reih und Glied die
Gartengeräte an den dazu angebrachten Haken, die alten Blumentöpfe
stehen nach Größen sortiert auf dem Regalbrett, das alte Abschleppseil
ist gerade zusammengelegt worden und der Sack Blumenerde, der immer
vorne im Weg stand, hat seinen Platz an der hinteren Garagenwand
gefunden. Selbst das vom Wind hinein gewehte Herbstlaub liegt fein
säuberlich zusammengefegt im alten Garteneimer.
Jetzt schäme ich mich noch mehr wegen meiner Ängstlichkeit und bekomme
später feuchte Augen, als ich die Weihnachtsgeschichte wieder höre.
"Es begab sich aber zu der Zeit ..." ... die kenne ich auswendig,
spreche den Text mit und bin sehr froh, dem "Freund" meines Sohnes ein
Nachtlager gegeben zu haben als ich an die Stelle komme "... denn sie
hatten sonst keinen Raum in der Herberge ...".
Vom Kirchturm her rufen die Glocken zum Weihnachtsgottesdienst.
--
Das war das 20. Türchen mit
- dem guten Gedanken
- Marias Krippe
- Epiktet
- Karins Weihnachtsgeschichte
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