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27. Mai 2011


Eine Gute Nacht Geschichte

Immer wenn es Abend wurde stand ich vor dem Hochbett mit dem Holzgitter,
durch das mich große Augen ansahen, auf die ab und an eine der überquellenden Locken fielen,
wobei ihr Kopf zu Beginn der Zeremonie des Erzählens immer aufgerichtet war.
Zumindest am Anfang.

"Erzähl mir eine schöne Geschichte"
kam es hell durchs Gitter.

Erwartungsvoll, bestimmt und vom Blick begleitet den Kinder haben,
wenn sie einen durchbohren wollen.

"Ich möchte dir heute etwas vom Horizont erzählen.
Er ist dort, wo die Erde sich mit dem Himmel berührt,
wo die großen Wolken aufliegen wie das Federbett auf dir, mein Schatz.

Sie ziehen am Tag über dich hinweg, mal schnell, mal langsam und sind manchmal sehr, sehr hoch.
Dann gibt es Tage, wo sie still zu stehen scheinen.
Es gibt auch welche, die dich in den Arm nehmen
und du vor lauter Nebel nichts mehr sehen kannst.
Wenn du in einem Flugzeug sitzt, kannst du sie durch die Scheiben sehen.
Jetzt berührt der Himmel die Wolken.

Früher waren die Menschen der Meinung, dass sie nur zum Horizont zu gehen brauchten,
um an den Rand der Welt zu kommen, der dort steil abfiel und ins Nichts führte.
Heute weiß Jeder, dass die Erde rund ist und es keine Kanten gibt, von denen man herunterfällt."

Bis hierher hatte sie mir ruhig zugehört und mich nicht unterbrochen.

"Gibt es denn eine Stelle auf der Welt ohne Horizont?"

"Es ist wie mit deinen Armen.
Wenn du sie um meinen Hals schlingst, um mich lieb zu haben,
berühren sie sich hinter meinem Kopf.
Wir können sie beide nicht sehen aber spüren.
Es ist mit vielen anderen Dingen so, die es tatsächlich gibt,
die man aber nicht sehen kann.

Wenn jemand keinen Horizont mehr sieht, kann er ganz traurig sein oder sehr, sehr glücklich.
Eine Stelle ist da, wo deine kleine Seele wohnt.
Beim Glücklichsein schwebt sie über den Wolken, beim Traurigsein in den Wolken.
Immer aber kommt sie heraus und findet den Horizont wieder, der ihr zeigt wo du stehst.

Du kannst ganz sicher sein, dass sie dich findet,
denn dich gibt es nur einmal auf der ganzen Welt.
Sie wird dich nicht verwechseln und bei dir sein ..."

... ihre Augen waren geschlossen, und ihr Atem ging schon regelmäßig.
Ich hatte ihre Aufmerksamkeit in einer der Wolken sicher verloren,
war mir aber klar, dass sie mich am nächsten Tag darauf ansprechen würde,
denn Kinder vergessen nichts, wenn es um ihre Seele geht.

[ Burkhard Jysch ]



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