Ingrid erzählt:
Weihnachten im Lager (unsere "Flucht" 1951 von Potsdam nach
Westberlin).
Meine Schwester, 14 Jahre alt, lag lange in der Kinderklinik in
Potsdam,
wo man sie letztendlich als "gesund" entlassen hat, dabei konnte man
ihr ansehen,
dass sie immer magerer wurde, die wunderschönen Haare ausfielen
und die Eltern mit dem Schlimmsten rechneten.
Ein befreundetes Ehepaar, in Westberlin wohnend, vermittelte dann
einen Termin bei einem Homöopathen, der schon an der Tür seines
Sprechzimmers rief:
Um Gottes Willen, Ihre Tochter hat hochgradig Zucker (Diabetes 1).
Ein Weilchen war es möglich, über einen Westberliner Arzt
Insulin an einen Arzt in Potsdam weiter zu leiten,
dann wurde der Arzt verpfiffen und "eingelocht".
Die Patientenkartei wurde durchforstet, Vati musste auch damit
rechnen,
dass er festgenommen wird, aber was viel schlimmer war,
meine Schwester bekam kein Insulin mehr!
Da musste schnell gehandelt werden und so entschlossen sich die
Eltern mit uns
nach Westberlin zu flüchten, das war damals noch mit der Straßenbahn
über die Glienicker Brücke möglich.
So wurden ganz eilig Sachen zusammen gepackt, die Papiere unten in
meinem Puppenwagen versteckt und ich wurde angehalten,
wenn uns ein DDR-Polizist kontrollieren wolle, solle ich weinen.
Es war eine riskante Angelegenheit, aber es gab ja keine andere
Möglichkeit.
Gottlob wurden wir nicht kontrolliert und so fuhren wir mit der
Straßenbahn
in Richtung Westberlin und sind dann an der Haltestelle Spandau
ausgestiegen.
Voller Entsetzen stellte meine Mutter fest, dass es auf der anderen
Straßenseite
einen HO-Laden gab, denn die rechte Straßenseite war Westen, links
war Osten ...
... doch zum Glück mussten wir ja rechts aussteigen.
Wir meldeten uns im Lager, wurden in der ersten Nacht in einem
riesigen Lager untergebracht,
Mutti gemeinsam mit uns Kindern, Vati in einer anderen Unterkunft.
Am nächsten oder übernächsten Tag wurde uns in einem anderen Lager
ein Zimmerchen zugewiesen, winzig klein, rechts 2 Hochbetten,
links ebenso, ein kleiner Tisch mit 4 Stühlen und ein winziger
Schrank,
aber wir hatten ja sowieso kaum Kleider und es gab
eine Gemeinschaftsküche, wo die Frauen kochten.
Meine Schwester wurde vom Lagerarzt untersucht und dann einige Tage
später ins KH überwiesen.
Im Lager lebten wir über ein halbes Jahr und somit auch über
Weihnachten.
Für unsere Eltern war das gewiss ein sehr trauriges Fest,
aber wir Lager-Kinder hingegen empfanden das anders,
die Sorgen der Eltern kannten wir nicht und fanden das alles sehr
spannend und aufregend,
besonders natürlich den Heiligen Abend.
So habe ich auch heute noch 60 Jahre später wunderbare Erinnerungen
daran.
Im Gemeinschaftsraum stand ein langer, langer Tisch, eine weiße
Tischdecke,
alles schön geschmückt, ein riesiger Tannenbaum, der unheimlich nach
Tannen duftete
und mit vielen Kerzen und Kugeln bestückt war!
Es wurden Weihnachtslieder gesungen, es gab Stollen, Plätzchen und
für uns Kinder Kakao,
das kannten wir doch gar nicht!
Und das Schönste:
Für jedes Kind gab es einen bunten Teller und welch Wunder, sogar
einen BALL!
Ich erinnere mich auch noch, dass die Kinder der Soldaten etwas
aufgeführt
und für uns gesungen haben, dann hieß es, wer selbst auf die Bühne
kommt
und etwas vorträgt, bekommt noch extra ein Geschenk.
Ach herrjeh, hätte ich doch zu gerne bekommen,
aber ich hab' mich nicht getraut!
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