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29. April 2012


Die Geschichte heute dürft Ihr nicht verpassen !!

Ich hatte Euch vorgestern erzählt, dass mir eine Seelenfärblerin eine Geschichte per Mail geschickt hat. Und dazu sagte, dass sie wohl zu lange für ein Kalenderblatt sei.
Ich bin der Meinung, dass dem nicht so ist ... denn schöne Geschichten dürfen lange sein und die heutige erst recht.

Freut Euch also auf

"Das Sternenmädchen und der Träumerle"

Eine Kurzgeschichte, in der die Worte Licht, summen, Schwarzsamt, Abendwind, Orchidee der Nacht
und Walzer enthalten sind ... geschrieben von Birgit Lutz:


Es war schon fast dunkel. Die Sonne war längst hinter dem Horizont versunken, und ihre letzten Strahlen verblassten immer mehr. Der Abendwind, der ihm wispernd durch die Haare strich, wurde bereits kühl.

Eine übereifrige Biene, die Hinterbeinchen schwer bepackt mit Pollen, summte eilig an ihm vorbei auf dem Weg zurück zu ihrem Stock. Erstaunt sah er ihr hinterher.
"Na, du bist ja mal spät dran", brummte er.

Auch seine Mutter würde ihn bald ins Haus rufen. Aber er wollte noch nicht hineingehen. Sein Blick schweifte fort von dem Insekt und den Büschen, in denen es verschwand, glitt haltlos über Wiesen, Felder, Bäume, hinweg über die Kuppen der Hügel und verlor sich in den Weiten des Nachthimmels, dessen dunkles Blau allmählich in Schwarz überging. Bevor er zwischen Wände trat und sich eine Tür hinter ihm schloß, wollte er noch die Sterne leuchten sehen. Die ersten zarten Punkte blinzelten bereits zu ihm herunter und lockten ein Lächeln aus seinem Inneren hervor.
"Timo! Timo? Träumerle...! Komm, es ist Essenszeit."

Er seufzte. Wenn sie nur endlich aufhören würde, ihn Träumerle zu nennen, als wäre er immer noch ein kleines Kind. Die anderen Jungen zogen ihn ständig damit auf. Es würde ihm ja nichts ausmachen, wenn sie ihn Träumer riefe, denn unbestreitbar war er einer, aber...

"Träumerle? Hörst du nicht? Wo bist du denn wieder mit deinen Gedanken?"
"Ich komme gleich", antwortete er unwillig.
"Warte nicht wieder, bis alles kalt ist."
"Nein, ich bin gleich da."

Zu seiner Erleichterung schloß sich die Haustür wieder und sperrte den lästigen Streifen Licht ein, der nach draußen in die anbrechende Nacht gedrungen war. Er mochte Lampenlicht nicht besonders. Es verfälschte die Farben und ließ alles irgendwie unnatürlich erscheinen. Die Wangen seiner Mutter wirkten dann immer viel zu rot, als hätte sie Fieber.

Wie schön waren dagegen die Sterne am Firmament! Hell und kühl und rein. Wenn sie nur nicht so weit fort wären! So unendlich weit fort! Wenn er sie nur erreichen könnte! Nichts wünschte er sich mehr. Es gab Musik dort. Wundervolle, spielerische, schwebende Musik. Da war er sich ganz sicher. Bei den Sternen waren Schönheit, Leichtigkeit und Glück. Und er sehnte sich danach, so sehr, daß es ihn schier zerriß.

Nicht immer war seine Sehnsucht so stark gewesen. Doch dann hatte er diesen seltsamen Kristall gefunden. Obwohl dieser glasklar und ungeschliffen war, brach sich in ihm das Sternenlicht zu Myriaden winziger Funken. Es war, als hielte man eine Miniaturausgabe der Milchstraße in der Hand, nur viel... lebendiger. Glückselige Schwerelosigkeit vibrierte in seinem Funkeln wie eine Verheißung, wenn Timo ihn berührte. Und das tat Timo oft. In jeder wolkenlosen Nacht nahm er den Kristall aus der Tasche, um diesen zarten Hauch des Himmels in seinen Händen zu spüren, verzehrte sich danach, daß nicht nur seine Hände davon erfüllt wären, sondern auch der Rest seines Körpers, sein Geist, sein ganzes Wesen. Jedesmal fiel es ihm schwerer, den Kristall irgendwann wieder wegzustecken und für den Rest der Nacht ins Haus zu gehen, und jedesmal war das quälende Verlangen hinterher noch größer. Dennoch wäre es ihm im Traum nicht eingefallen, den Kristall nicht mehr ins Licht der Sterne zu halten oder ihn gar fortzuwerfen. Er war sein größter, kostbarster Schatz.

Auch jetzt wollte er ihn wieder hervorholen, hatte die Hand aber noch nicht in die Tasche gesteckt, als ihn etwas ablenkte. Es war ein Geräusch, so leise, daß er schon meinte, er hätte sich geirrt. Doch als er lauschte, hörte er es wieder. Da weinte jemand.

Das war seltsam. Sein Elternhaus lag am Rande des Dorfes, grenzte direkt an die dunklen Felder und Weiden. Um diese Zeit war normalerweise niemand mehr hier draußen. Niemand außer ihm. Er hielt den Atem an, um noch besser hören zu können. Kein Zweifel, ganz in der Nähe war jemand und weinte bitterlich.

Timo stand auf und folgte dem leisen Schluchzen. Es kam aus der Haselhecke am Feldrand, in denen vorhin die Biene verschwunden war. Ob jemand gestochen worden war? Timo schob die Zweige eines Strauches zur Seite, überzeugt davon, ein Kind mit einem geschwollenen Fuß oder Finger vorzufinden. Aber da war kein Kind! Es war...

ja was? Timo konnte es nicht sagen. Noch nie zuvor hatte er ein solches Geschöpf gesehen.
Es sah aus wie ein junges Mädchen, nur viel, viel schöner als ein Menschenmädchen es je sein konnte. Sein blondes Haar war lang und so hell, daß es im Sternenlicht weiß schimmerte. Sein zierlicher Körper steckte in einem schlichten Kleid, noch weißer als sein Haar, und seine nackten Füße waren so zart und durchscheinend wie Glas. Als es Timo erblickte, wischte es sich mit einer Hand die Tränen fort und sah ihn aus großen, dunklen Augen erschrocken an.
"Nein, lauf nicht weg", sagte Timo rasch.

Denn genau so sah sie aus: als wollte sie jeden Augenblick die Flucht ergreifen. Und Timo wollte auf keinen Fall, daß sie verschwand. Sie war wie... wie... wie der Kristall, den er gefunden hatte. Ihr Anblick ließ seine Seele erbeben.

"Wie kommst du hierher?" fragte er.
"Ich... ich bin... vom Himmel gefallen", antwortete sie zitternd, und neue Tränen rannen über ihr blasses Gesicht.
Timo bezweifelte keinen Moment lang, daß sie die Wahrheit sprach.
"Warum? Was ist passiert?"
"Ich h-h-hab mein H-h-Him-mmels-licht ver-loren. W-w-enn i-ich es ni-nicht w-wiederf-finde, k-kann ich n-n-nie mehr zur-rück nach Hause!"

Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht, ihre schmalen Schultern bebten unter stummem Schluchzen.

Timo sah sie an, und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er ahnte schon, was dieses Himmelslicht war, das sie verloren hatte. Und wenn er Recht hatte, dann konnte er es nicht behalten, ganz gleich, was es ihn kosten würde, es zurückzugeben. Es half alles nichts, er mußte sie fragen. Das wußte er. Und doch zog seine Hand den Kristall nur äußerst widerstrebend aus der Tasche und hielt ihn dem Mädchen hin.
"Ist es das? Ist das... dein Himmelslicht?"

Seine Stimme klang belegt, und seine Finger umklammerten das Kleinod, als könnten sie sich unmöglich davon trennen.

Das Weinen des Mädchens aber wurde leiser, und Timo konnte sehen, wie sie durch den Spalt zwischen ihren beiden Händen hindurchblinzelte.
"Du hast es gefunden?" hauchte sie und hob zaghaft das Gesicht.

Im selben Augenblick begann der Kristall aus sich selbst heraus zu leuchten, so klar und strahlend, daß Timo die Augen zusammenkneifen mußte, um nicht geblendet zu werden.

"Du hast ihn gefunden!" juchzte das Mädchen, legte seine durchscheinenden Finger auf den Kristall und begann, ebenfalls in hellstem Sternenlicht zu erstrahlen.

Alles in Timo verkrampfte sich, kaum konnte er sich dazu überwinden, seinen Schatz loszulassen. Als seine Finger sich schließlich doch lösten, glaubte er, er müßte in tausende feiner Splitter zerbersten. Mit Tränen in den Augen sah er zu, wie das Mädchen den Kristall in ihr Haar steckte. Rasch fuhr er sich mit der jetzt leeren, kalten Hand über das Gesicht.
Das Mädchen aber lächelte ihn glücklich an.

"Ich danke dir von ganzem Herzen. Du bist mein Retter. Deshalb will ich dir auch etwas geben."
Sie wollte nach seiner Hand greifen, doch er kam ihr zuvor und hielt sie fest.

"Wenn du dich bei mir bedanken willst", sagte er atemlos, "dann nimm mich mit, wenn du nach Hause gehst."

Erschrocken wich das Mädchen einen Schritt zurück.
"Dich mitnehmen? In den Himmel zu den Sternen? Aber... das geht nicht. Du bist ein Mensch."
"Bitte", flehte er, "nur für eine Nacht. Eine einzige! Bitte!"

Das Mädchen schien verwirrt.
"Eine Nacht? Gibt es denn mehr als eine?"
"Es gibt unendlich viele. Und ich wünsche mir nur eine, eine einzige Nacht im Reich der Sterne. Bitte!"
"Nun... wenn du es dir so sehr wünschst?"

Lächelnd griff das Mädchen erneut nach seiner Hand, und plötzlich war alles um sie herum verschwunden. Der Erdboden, die Büsche und Bäume, die Hügel. Nichts war mehr um sie herum als Dunkelheit und ein stürmischer Wind. Offenbar waren sie mit rasender Geschwindigkeit unterwegs. Timo mußte die Augen schließen, weil die kalte Luft ihm die Tränen aus den Augen trieb. Kurz darauf jedoch erstarb der Wind, und als Timo die Augen wieder öffnete, stand er mit dem Mädchen mitten in der dunklen Unendlichkeit. Er brauchte einige Herzschläge, um den Schwindel von der Reise abzuschütteln, doch dann ergriff ihn ehrfürchtiges Staunen.

Rings um ihn herum leuchteten zahllose Geschöpfe wie das Mädchen neben ihm in der Dunkelheit, hell, klar und rein, und sie alle tanzten, wirbelten und drehten sich zu einer beschwingten, fröhlichen Melodie, noch süßer und schwereloser, als Timo sie sich hätte vorstellen können.
"Möchtest du mit mir tanzen?" fragte das Mädchen.

Sein Kleid war nicht mehr schlicht, sondern ein Ballkleid, das prächtig glitzerte und funkelte und ihr silbernes Haar war elegant hochgesteckt und mit Perlen geschmückt.
Peinlich berührt sah Timo an sich hinunter. Doch zu seiner Überraschung und Erleichterung trug er nicht mehr seine eigenen Kleider, sondern elegante aus kostbarem Schwarzsamt. Trotzdem gab es da immer noch ein Problem.

"Ich würde gerne mit dir tanzen", sagte er verlegen, "wenn ich denn tanzen könnte."
"Ach", lächelte das Mädchen, "das ist ganz leicht."

Sie nahm ihn bei der Hand und begann, sich im Takt des Walzers mit ihm zu drehen. Und so tanzten sie, tanzten und tanzten, immer weiter und immer weiter. Die Musik und das Licht erfüllte Timos Herz bis in den letzten Winkel, schenkten ihm alle Glückseligkeit, nach der er sich so sehr gesehnt hatte.
Lange, lange tanzten sie so, doch ganz allmählich wurde es Timo kalt. Kalt und immer kälter und kälter. Er begann zu frieren, begann zu zittern, seine Finger wurden steif und seine Lippen blau. Und auch seine Füße wurden immer schwerer, sein Körper immer müder. Als er zu stolpern begann, hielt das Mädchen erschrocken inne.

"Was ist mit dir?" fragte es besorgt. "Dein Haar wird ganz weiß."
"Er stirbt", sagte da eine tiefe weibliche Stimme neben ihnen.

Timo hob mühsam den Blick. Eine wunderschöne Frau stand da, in einem wundervollen Kleid aus demselben Schwarzsamt, wie er ihn trug, aber über und über mit feinem Silber bestickt wie mit Sternenstaub. Es war die Nacht, die Mutter der Sterne, die mit ihnen sprach.

"Der Himmel ist nicht für die Menschen gemacht", erklärte sie. "Wenn er hier bleibt, wird er erfrieren."

"Aber ich möchte nicht nach Hause", bettelte Timo, doch die heißen Tränen, die ihm aus den Augen rannen, gefroren auf seinem eisigen Gesicht.

Die Nacht streckte die Hand aus, streifte eine der Eistränen von seiner Wange und hielt sie ihm hin.
"Du mußt nach Hause", mahnte sie. "Doch will ich dir etwas geben, um deine Sehnsucht zu stillen."
Sie öffnete ihre andere Hand, darin lag ein winziges Lichtpünktchen, das sie auf Timos Träne fallen ließ.

"Das ist ein Samenkorn. Pflanze es an einem dunklen Ort, der stets im Schatten liegt, und es wird eine Blume daraus wachsen, eine Orchidee der Nacht. Sie wird dich stets an diese Nacht erinnern und dich trösten."

Mit zitternden Fingern nahm Timo das kalte Samenkorn entgegen, dann folgte er dem Sternenmädchen schweren Herzens durch Dunkelheit und Sturm zurück zur Erde.

"Nochmals tausend Dank, mein Retter, ich werde dich nie vergessen", hauchte es ihn sein Ohr, und noch ehe er die Augen wieder geöffnet hatte, war sie schon verschwunden.

Taumelnd sank Timo auf dem Baumstamm nieder, auf dem er sonst immer saß, wenn er zu den Sternen aufsah. Ihm war nicht mehr ganz so kalt, doch er war zutiefst erschöpft, und so kostete es ihn einiges an Mühe, den lockeren Boden aufzugraben, und das Samenkorn der Nacht in seinem Schatten zu pflanzen. Dann stand er auf, um ins Haus zu gehen. An der Tür blickte er noch einmal zurück zu dem Baum und dann hinauf in den Nachthimmel. Und er lächelte.

Als er das Haus betrat, kam ihm seine Mutter entgegen.

"Wo warst du denn wieder so lange?" fragte sie mit sanftem Tadel in der Stimme.
"Ich habe mit den Sternen getanzt, Mutter."

Sie lachte ... "Ach, mein Junge, selbst wenn du irgendwann erwachsen wirst, bist und bleibst du doch für immer mein Träumerle."



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