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11. Dezember 2013



Zu meinen weihnachtlichen Traditionen gehört es,
am Heiligen Abend nachmittags das Grab meiner Eltern zu besuchen.

Ich fahre mit der Straßenbahn Linie 71 zum Zentralfriedhof.
Es ist eine lange, lange Fahrt, während der ich mich immer gerne
an all die Weihnachtsfeste vergangener Jahre zurückerinnere

Vor ein paar Jahren kam ich aber nicht dazu,
denn es geschah etwas Erstaunliches.

Es waren nur wenige Leute im Zug:
ein altes Paar, das ein zwar flüsterleises, aber eindeutiges Streitgespräch führte
ein Herr mit einem Hund
eine mit Paketen vollbepackte Dame
drei Jugendliche im gruselig-schwarzen Gotiklook

und ich mit meinen Gedanken an die Vergangenheit.
Es war düster und ungemütlich.

Bei der nächsten Haltestelle stieg eine seltsame Gestalt ein:
eine alte Frau in einem dunkelroten Umhang, der schmutzigweiss umsäumt war.
In der Hand trug sie einen Korb voller Tannenzapfen und
auf ihren grauen Haaren saß eine neon-pinke Strickhaube,
garniert mit einem gelben Tüllschleier.

Die gotischschwarzen Teenager kicherten ... dem streitenden Paar verschlug es minutenlang die Rede,
bevor die beiden missbilligend und nun einhellig die Köpfe schüttelten;
Der Hund knurrte, sein Herrchen zischte: "aus, Ruhe jetzt!".
Die Dame blickte angestrengt an der bunten Person vorbei.

Die Erscheinung stellte sich in die Mitte des Waggons, rief laut;
"Fröhliche Weihnachten miteinander" und begann sogleich
"Oh, du fröhliche" zu singen ... dabei schaute sie herausfordernd in die Runde
und dirigierte mit weitausholender Geste.

Eines der gruseligen Kinder (es war nicht auszumachen,
welchen Geschlechts diese waren) rief: "Cool !!!" ... worauf alle drei laut mitzusingen begannen.
Das war ebenso überraschend wie mitreißend.

Die Dame mit den Paketen summte leise mit, ich ebenfalls.
Bei "Oh Tannenbaum" stimmte der Herr samt Hund mit ein.

Die Straßenbahn hielt wieder bei einer Haltestelle und ein Vater mit 3 Kindern stieg zu.
Passenderweise sang die pinkhaubige Person nun "Ihr Kinderlein kommet" ... Vater und Kinder sangen sogleich mit,
was unsere Dirigentin offensichtlich begeisterte und zu weiteren Gesängen anspornte.

Wir waren schon ein richtiger Chor geworden und alle,
auch das streitende Paar, sangen mit und lächelten fröhlich.

So ging es ein paar Stationen weiter.
Jeder, der zustieg, machte auf seine Weise mit und jeder, der die Bahn verließ,
wünschte der singenden Allgemeinheit ein frohes Weihnachtsfest.

Es herrschte Weihnachtsstimmung pur.

Schließlich verließ die bunte Dirigentin die Straßenbahn,
bedankte sich aber vorher fürs Mitsingen.

Die schwarzen Teenager sangen noch eine Weile weiter,
kamen aber bald in heilloses Kichern ... dann war das Weihnachtskonzert zu Ende.

Aber immer noch schwebte diese unsagbare, warme, heimelige Stimmung durch den Waggon.
Es war, als wäre das Christkind persönlich eine kleine Weile mitgefahren.

--

 Das war das elfte Adventskalenderblatt mit
den "Advent hat doch ein Preisschild"-Gedanken, Bettinas Tür,
dem Beginn eines Adventsspazierganges, Elfis einfachem Faltstern,
Dem Déjà-vu-Stern am Fenster und Ilissas Heilig-Abend-Straßenbahnerlebnis.

Die Anleitung für den einfachen Faltstern wird nachgereicht (sogar bebildert).

 



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