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4. Dezember 2015



 
Schwerfällig und mit einem gutmütigen Lächeln auf dem pausbäckigen Gesicht
machten die Wolken dem winzigen Eiskristall Platz,
der sich ungeduldig zwischen ihnen seinen Weg suchte.

Dann stand er endlich schwer atmend vor dem großen goldenen Tor,
welches sich alsbald öffnete und durch den glitzernden Sternenvorhang,
der den Eingang verschloss, trat Gott auf den kleinen Eiskristall zu.

Sanft und vorsichtig strich ihm Gott mit seiner Hand begütigend
über den zarten und zerbrechlichen Schopf.
Der kleine Eiskristall forschte fragend und gleichzeitig erwartungsvoll in den freundlichen Augen,
die wohlgefällig und mit allen Anzeichen von Stolz auf ihm ruhten.

"Erzählst du mir heute wieder eine Geschichte?
Am liebsten noch einmal die Geschichte von der Liebe und von den Menschen? Bitte ..."

"Nein ... mein Kleiner ... heute nicht", erwiderte Gott ernst und musste schmunzeln,
als er in das enttäuschte hell glitzernde Gesichtchen von dem kleinen Eiskristall sah.

Er setzte eine geheimnisvolle Mine auf und in einem verschwörerischen Ton sagte er:
"Heute habe ich etwas viel Besseres mit dir vor, als nur die Geschichte zu erzählen!
Es ist soweit, mein Kleiner ... du darfst auf die Erde zu den Menschen,
wohin du so gern möchtest, und wenn du genau hinschaust,
wirst du der Liebe persönlich begegnen.

Die Menschen brauchen sie ... die Liebe ... und wer sie sieht und erkennt,
dessen Herz wird weit ... denn die Liebe wird bis ans Ende aller Tage
mein Geschenk an die Menschen sein."

An diese Worte dachte der kleine Eiskristall wenig später zurück,
nachdem er mit seinen vielen Geschwistern endlich die weite Reise zur Erde angetreten hatte.
Er war aufgeregt und voller Vorfreude auf die Begegnung mit den Menschen
und besonders auf die Liebe, die sich doch nur ganz in der Nähe der Menschen befinden konnte.
Die Liebe war etwas so Wunderbares, dass man sie nicht mit Worten beschreiben konnte,
das wusste er aus den Erzählungen von Gott.
Und er würde es fühlen, wenn die Liebe in seinem kleinen Kristallherzen Einzug hielt.

Der Wind trieb hoch über der Erde ein lustiges Spiel mit den kleinen Eiskristallen.
Sie jubelten ihre Freude in die Welt hinaus, ließen sich bereitwillig von ihm weit
über das nächtliche dunkle Land wirbeln, umschlangen sich mit den Händen, bildeten dicke weiße Flocken
und schwebten am Ende ihrer Reise sanft und glitzernd ihrem Ziel entgegen.

Weich schmiegte sich der kleine Eiskristall mit seinen Geschwistern in den Zweig einer Dattelpalme hinein.
Er genoss das sanfte Wiegen des langen Palmwedels im Wind und hob die Augen zum dunklen Himmel.

Dort leuchtete er ... der Sternenvorhang zu Gottes unendlichen Räumen.
Gleich würde sich der Vorhang heben und Gott würde ihn hier drunten auf der Erde sehen können.
Müde und zufrieden schloss der kleine Kristall die Augen,
um sich von der weiten und anstrengenden Reise zu erholen.

Er erwachte vom leisen Gemurmel menschlicher Stimmen ... dem zarten Klingen von Glöckchen
und dem kaum wahrnehmbaren Schnauben von Tieren.
Sanftes Licht drang durch seine Lider und vorsichtig öffnete er die Augen.

Der kleine, nach einer Seite offene Unterstand für die seltsamen,
recht großen Tiere war von einem warmen, flackernden Licht erfüllt.
Zufrieden wiederkäuend lagen und standen die Tiere auf der üppigen Einstreu.
Ihr warmer Atem hauchte wie zarter Nebel in die kalte Luft und es war,
als ob sie allein damit das Innere des kleinen Stalles aufwärmen wollten.

Die einfach gekleideten Menschen knieten eng beieinander zwischen den Tieren
und der helle Schein der Öllampen erhellte ihre Gesichter,
in denen sich unbeschreibliches Glück und eine tiefe Demut die Waage hielten.

Der kleine Eiskristall erschauerte, als er die gebeugten Menschen zum ersten Mal
in seinem Leben aus der Nähe sah. Sie schützten sich mit warmen Tüchern und Decken
vor der Kälte und als die Tiere die Köpfe senkten, um sich ihrer Nahrung zu widmen,
erblickte der kleine Eiskristall eine einfache roh gezimmerte Wiege zwischen den betenden Menschen,
warm ausgepolstert mit Stroh, in dem ein winziges Menschenkind die kleinen Ärmchen reckte
und auf dessen Gesichtchen sich ein solch unschuldig reines Lächeln spiegelte,
wie es der kleine Eiskristall noch nie gesehen und auch nicht erwartet hatte.

Verzaubert umfasste sein Blick die in Andacht versunkenen Menschen zwischen all den Tieren,
deren warmer Atem das Kindlein in der Krippe mitwärmte, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Je länger der kleine Kristall von der Spitze des kalten Palmwedels in das Innere des Stalles blickte,
und dabei alles um sich her vergaß, umso mehr schlich sich das Wissen um ein mächtiges Gefühl
in sein winziges Herz, das schon immer bei ihm gewesen war ... was Gott ihm
in seinen Erzählungen jedoch nicht mit Worten beschreiben konnte.

"Du wirst es wissen und es fühlen, wenn du die Liebe gesehen hast,
denn sie ist in allen Geschöpfen und in allen Dingen und nur,
wenn du die Menschen, Tiere und alle Dinge mit dem Herzen betrachtest,
wird sie ein Licht in dir anzünden, das nie erlischt."

Der kleine Kristall lauschte ... hatte Gott nicht eben ganz leis gelacht?
Hatte der gleißende Sternenmantel über ihm sich nicht eben bewegt?

Ja ... jauchzte er im Stillen und sein Herzchen erbebte, während er die glänzenden,
in allen Farben des Regenbogens schillernden Augen nicht
von dem stillen Bild in dem kleinen Stall wenden konnte.

Die ärmlich gekleideten Menschen, die trotz der bitteren Kälte ein glückliches Lächeln
auf den Gesichtern trugen, welches direkt aus dem Herzen kam, die Hirten,
die sich aufopfernd um die Tiere sorgten, und in der Mitte von allen das Kindlein,
welches einen Schatz in sich trug, den nur Gott allein kannte.
Einen Schatz, dessen Kraft sanft und Grenzen überwindend in die Welt hinaus strahlte ... die Liebe.

Viele Tage genoss der kleine Kristall mit seinen Geschwistern das wundersame Bild vor seinen Augen.
Immer wieder kamen Menschen, die sich dem Kindlein andächtig näherten und ihm Geschenke darbrachten.
Sie kehrten heim mit einem neuen Gefühl im Herzen, welches sie weitergaben an ihre Nächsten,
um von dort seinen Weg in alle Welt zu finden.

Ein Windstoß wirbelte den kleinen Eiskristall von der Spitze seiner Palme hinweg
und trieb ihn über das Land bis zu einem Fluss, in den er unaufhaltsam hineingezogen wurde.
Als er die Wasseroberfläche berührte, traf ihn der erste Sonnenstrahl des neuen Tages
und er zerstob zu einem glitzernden Wassertropfen.

Hell lachte er auf und genoss das neue Gefühl unbändiger Freiheit in dem murmelnden Wasser,
umgeben von Myriaden seiner Freunde, die sich spielerisch mit ihm verbanden
und gemeinsam eilten sie den langen Weg zum Meer.

Der kleine Kristall, der jetzt als schillernd klarer Wassertropfen so glücklich war,
wusste jedoch, dass er eines Tages wieder auf den Weg zurück zu Gott gehen würde.
Und als es endlich soweit war und die Sonne ihn sanft anhob, damit er
seine Reise in den Himmel begann, konnte er es kaum erwarten,
Gott von seinen Abenteuern auf der Erde zu erzählen.

Von den Menschen, die er nun noch mehr liebte, von den wundersamen Tieren,
von all den vielen bunten Dingen, denen er begegnet war und ... ja ... sein Herzchen
bebte vor Erwartung ... von der Liebe ... davon wollte er Gott zuerst erzählen,
denn sie war das Schönste und Größte, was es unter dem Himmel gab!

~**~

Das war das vierte Türchen mit der Christbaumkugel, dem Adventszug in Aarhus/Dänemark,
dem golden schimmernden Winterbild, dem Interview von Angelika und Janets Geschichte vom Eiskristall.


 
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