Weihnachten 1944
Ich habe heute eine Geschichte für Euch ... sie ist lang ... und ich hatte auch
der Seelenfärblerin, die sie mir geschickt hatte, gesagt, dass sie zu lang für
den Adventskalender sei ... aber nun habe ich, der ich mit langen Texten so
meine Schwierigkeiten habe, sie dennoch durchgelesen und bin ihr Zeile für Zeile
gefolgt und wusste dann, ich muss sie veröffentlichen ... dieses Zeitzeugnis
muss man lesen, soviel Zeit sollte man sich nehmen.
Elisabeth J. erzählt:
An die Advent – und Weihnachtszeit 1944 erinnere ich mich noch gut. Damals war
ich 8 Jahre alt – es ist also genau 70 Jahre her.
Im September waren sowohl mein ältester Bruder Franz Wilhelm (14 Jahre alt) wie
auch mein Vater einberufen worden, um am Westwall mitzuarbeiten. Es wurden
sozusagen die letzen Reserven zusammen gerufen, um das Reich zu schützen:
Schülerinnen und Schüler ab Jahrgang 1929 und auch deren Lehrer! Sogar Mädchen
mussten mit, diese weniger zum Schippen oder Schanzen (Gräben ausheben an den
Grenzen, damit die feindlichen Panzer nicht ins Reich eindringen konnten)
sondern um in den Küchen zu helfen, die die Männer und Jungen versorgen sollten.
Es war für uns wirklich eine traurige Zeit, und Mutter, die ja immerfort krank
war, konnte ihre Sorgen kaum verbergen! Dennoch gab es einen Adventskranz und wir
sangen so gut wir konnten, unsere Adventslieder. Es fehlte ganz entschieden der
große Bruder, der sonst immer angestimmt hatte!
Kerzen gab es in dem Jahr übrigens viele und sie lagen oben auf den beiden
Küchenschränken zusammen mit Streichhölzern – immer griffbereit. Denn in dem
Jahr fiel der Strom häufig aus und so musste man sich mit Kerzen behelfen.
Zum Glück heizten wir mit Briketts, in der Küche stand ein Herd, auf dem gekocht
wurde. Einen Kühlschrank, eine Waschmaschine oder gar eine Spülmaschine waren
nicht vorhanden. Es gab zwar ein elektrisches Bügeleisen, aber für gewöhnlich
wurde mit schweren Bügeleisen, die auf dem Küchenherd erhitzt wurden, gebügelt.
Also betraf der Stromausfall nur das elektrische Licht – aber das war schon
schwierig genug. Andererseits fand ich es ganz lustig, wenn wir so um den
Küchentisch bei Kerzenlicht herumsaßen, es wurde erzählt und Mutter und Oma
versuchten, uns nicht in zu traurige Stimmung versinken zu lassen. Wenn jemand
ins Badezimmer ging, nahm er vorsichtig eine Kerze mit – schließlich musste die
Treffsicherheit gewährleistet sein....
Gleich in der ersten Adventswoche eine schöne Überraschung: Mein Bruder Franz
Wilhelm kam zurück. Er war den ganzen Weg von der Westgrenze ( Gegend von
Aachen) zu Fuß nach Frechen gelaufen. Er konnte es nicht riskieren, in einen Zug
zu steigen. Denn dort wurde kontrolliert und er war sozusagen ein Deserteur! Er
durfte dann auch nicht raus, musste sich verstecken, denn Mutter wollte ihn auf
keinen Fall wieder gehen lassen. Eine Szene hat sich mir unauslöschlich
eingeprägt:
Es klingelte am Nachmittag, wir saßen zusammen in der Küche, Oma bügelte und
Mutter saß im Morgenmantel am Tisch. Mutter zeigte nach oben und mein großer
Bruder raste in die obere Etage, wo die Schlafzimmer waren. Dann stand Mutter
auf, ergriff das Bügeleisen, das auf dem Tisch stand, ging zur Etagentür,
öffnete sie, drückte auf den Türöffner (Gegensprechanlage gab es nicht) und
stand mit hoch geschwungenem Bügeleisen mit drohendem Gesicht oben an der
Treppe! Zum Glück war es ein harmloser Besucher, niemand von der SA oder SS oder
simpler Polizei!
Ein beeindruckendes Bild: die kleine zarte Frau ( höchstens 1,55 m), im
abgetragenen Morgenmantel, Zorn im Gesicht und mit dem Bügeleisen drohend. Dabei
wussten wir alle, dass sie eigentlich für fast alle Tätigkeiten zu schwach war.
Nun aber reagierte sie wie eine Löwenmutter, die ihr Junges verteidigt!
Ich habe mir oft überlegt, ob sie das Eisen wirklich auf das Haupt eines
Kontrolleurs geschmettert hätte, der nachschauen wollte, ob ein 14jähriger Junge
lieber zu Hause sein wollte als das Vaterland zu verteidigen....
Wenige Tage vor Weihnachten war der Strom wieder mal ausgefallen. Oma hatte
Kerzen vom Küchenschrank geholt, da es schon dunkel war. Mutter sagte, wir
könnten jetzt eigentlich einen Rosenkranz beten und dabei den lieben Gott
bitten, dass Vater bald wieder nach Hause käme.
Das taten wir und plötzlich klingelte es. Ich dachte sofort: "Das ist Vater! Wir
haben so sehr dafür gebetet!"
UND er war's!!! Franz Wilhelm war irgendwie starr am Tisch sitzen geblieben,
statt wie sonst bei jedem Klingeln in die obere Etage zu rennen.
Es war eine unglaubliche Freude und Aufregung und unsere Eltern, die sehr selten
in unserer Gegenwart irgendwelche Zärtlichkeiten austauschten, nahmen sich
wortlos in die Arme!!!
Nun konnten wir uns doch noch auf das Weihnachtsfest freuen!!
Die Hauptfeier war bei uns am Heiligen Abend. Wir durften schon zwei Tage nicht
ins sogenannte Herrenzimmer, dort war der Weihnachtsbaum und wurde geschmückt.
Auch das Wohnzimmer war am 24.12. für uns tabu: dort wurde der Weihnachtstisch
fertig gemacht; die Eltern schliefen zwar dort – da Mutter ja nicht mehr rauf
ins Schlafzimmer gehen konnte. Aber sie gab natürlich alle Anweisungen, die Oma
und Vater und wahrscheinlich in dem Jahr schon meine älteste Schwester Margret
(13 J.) ausführten.
Aber ständig erklang die Sirene und wir mussten in den Bunker oder zumindest in
den Keller und so entschlossen sich die Eltern, in diesem Jahr erst am Morgen
des 1.Weihnachtstages nach dem Frühstück die Weihnachtsfeier und die Bescherung
zu machen. Wahrscheinlich hofften sie, dass am 25.12 doch mal Waffenruhe sein
würde. Das hatte es in den vergangenen Jahren durchaus zur Weihnachtszeit
gegeben.
Nach dem Frühstück erklang also auf einmal Musik aus dem Weihnachtszimmer: Vater
spielte auf der Geige Ihr Kinderlein kommet ... auf diese Weise hatte er uns
immer sozusagen wortlos ins Zimmer gerufen.
Wir gingen also singend ins Weihnachtszimmer, Mutter saß schon dort in einem
Sessel, Oma setzte sich dazu, der Weihnachtsbaum erstrahlte und war wunderschön
geschmückt. Die Krippe stand dort und ich staunte das alles wieder an!
Wir sangen mehrere Lieder, der eine oder die andere sagte ein Gedicht und
Mechthild, die Jüngste (5 J. alt) sang ganz allein:
(von Vater mit der Geige begleitet)
"Christkindele, Christkindele, komm doch zu uns herein.
Wir haben ein Heubündele und auch ein Gläschen Wein.
Das Bündele fürs Eselein fürs Kindele das Gläselein!
Und beten und beten und beten können wir auch!"
Das Lied hatte vor zwei Jahren noch ich solo gesungen. Aber dafür war ich jetzt
schon zu groß! Schließlich war ich schon 8 Jahre alt und wusste schon seit über
einem Jahr, dass nicht das Christkind sondern die Eltern und die Oma und auch
noch Tanten die Geschenke besorgten und den Baum und das ganze Weihnachtszimmer
schmückten! Aber das würde ich der Kleinen nicht verraten.
Als wir schließlich jubelnd ein Geschenk nach dem andern auspackten, erklangen
schon wieder die Sirenen: Fliegeralarm!
Jeder wusste, was zu tun war. Mäntel anziehen, die fertig gepackte Tasche
umhängen, Mutter und Franz Wilhelm gingen in den Keller, Mutter von ihrem Mann
und ihrem großen Sohn mehr getragen als gestützt, wir übrigen marschierten ab in
den Bunker. Nicht ohne Mutter vorher zu fragen, ob wir ein Geschenk mitnehmen
könnten, um es den andern Kindern im Bunker zu zeigen.
An diesem Tag ging es mindestens 5 mal in den Bunker aber ich erinnere mich
nicht an Angst, sondern daran, dass ich jedes mal ein anderes Geschenk mitnehmen
durfte, um es den andern Kindern zu zeigen, die das im übrigen genau so machten.
Es waren nur einfache Sachen und gewiss nicht teuer, aber erfüllten uns mit
großer Freude. Und die größte Freude war , dass Vater und großer Bruder wieder
zu Hause waren.
Ich habe mich (sehr viel später) darüber gewundert, wie Vater und Mutter es
fertig gebracht hatten, dass unsere Angst sich so sehr in Grenzen hielt, wenn
wir nur zusammen sein konnten!!
--
Das war das neunzehnte Türchen mit Buck und Engelbert, Elfis
15-Minuten-Weihnachten-Box,
dem Interview mit Ingrid/Ile, Onyxias Rotkehlchenkarten und Elisabeths
Weihnachts-Geschichte aus 1944.
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