Home

19. Dezember 2016

Weihnachten 1944

Ich habe heute eine Geschichte für Euch ... sie ist lang ... und ich hatte auch der Seelenfärblerin, die sie mir geschickt hatte, gesagt, dass sie zu lang für den Adventskalender sei ... aber nun habe ich, der ich mit langen Texten so meine Schwierigkeiten habe, sie dennoch durchgelesen und bin ihr Zeile für Zeile gefolgt und wusste dann, ich muss sie veröffentlichen ... dieses Zeitzeugnis muss man lesen, soviel Zeit sollte man sich nehmen.

Elisabeth J. erzählt:

An die Advent – und Weihnachtszeit 1944 erinnere ich mich noch gut. Damals war ich 8 Jahre alt – es ist also genau 70 Jahre her.

Im September waren sowohl mein ältester Bruder Franz Wilhelm (14 Jahre alt) wie auch mein Vater einberufen worden, um am Westwall mitzuarbeiten. Es wurden sozusagen die letzen Reserven zusammen gerufen, um das Reich zu schützen: Schülerinnen und Schüler ab Jahrgang 1929 und auch deren Lehrer! Sogar Mädchen mussten mit, diese weniger zum Schippen oder Schanzen (Gräben ausheben an den Grenzen, damit die feindlichen Panzer nicht ins Reich eindringen konnten) sondern um in den Küchen zu helfen, die die Männer und Jungen versorgen sollten.

Es war für uns wirklich eine traurige Zeit, und Mutter, die ja immerfort krank war, konnte ihre Sorgen kaum verbergen! Dennoch gab es einen Adventskranz und wir sangen so gut wir konnten, unsere Adventslieder. Es fehlte ganz entschieden der große Bruder, der sonst immer angestimmt hatte!
 
Kerzen gab es in dem Jahr übrigens viele und sie lagen oben auf den beiden Küchenschränken zusammen mit Streichhölzern – immer griffbereit. Denn in dem Jahr fiel der Strom häufig aus und so musste man sich mit Kerzen behelfen.

Zum Glück heizten wir mit Briketts, in der Küche stand ein Herd, auf dem gekocht wurde. Einen Kühlschrank, eine Waschmaschine oder gar eine Spülmaschine waren nicht vorhanden. Es gab zwar ein elektrisches Bügeleisen, aber für gewöhnlich wurde mit schweren Bügeleisen, die auf dem Küchenherd erhitzt wurden, gebügelt.
Also betraf der Stromausfall nur das elektrische Licht – aber das war schon schwierig genug. Andererseits fand ich es ganz lustig, wenn wir so um den Küchentisch bei Kerzenlicht herumsaßen, es wurde erzählt und Mutter und Oma versuchten, uns nicht in zu traurige Stimmung versinken zu lassen. Wenn jemand ins Badezimmer ging, nahm er vorsichtig eine Kerze mit – schließlich musste die Treffsicherheit gewährleistet sein....

Gleich in der ersten Adventswoche eine schöne Überraschung: Mein Bruder Franz Wilhelm kam zurück. Er war den ganzen Weg von der Westgrenze ( Gegend von Aachen) zu Fuß nach Frechen gelaufen. Er konnte es nicht riskieren, in einen Zug zu steigen. Denn dort wurde kontrolliert und er war sozusagen ein Deserteur! Er durfte dann auch nicht raus, musste sich verstecken, denn Mutter wollte ihn auf keinen Fall wieder gehen lassen. Eine Szene hat sich mir unauslöschlich eingeprägt:

Es klingelte am Nachmittag, wir saßen zusammen in der Küche, Oma bügelte und Mutter saß im Morgenmantel am Tisch. Mutter zeigte nach oben und mein großer Bruder raste in die obere Etage, wo die Schlafzimmer waren. Dann stand Mutter auf, ergriff das Bügeleisen, das auf dem Tisch stand, ging zur Etagentür, öffnete sie, drückte auf den Türöffner (Gegensprechanlage gab es nicht) und stand mit hoch geschwungenem Bügeleisen mit drohendem Gesicht oben an der Treppe! Zum Glück war es ein harmloser Besucher, niemand von der SA oder SS oder simpler Polizei!

Ein beeindruckendes Bild: die kleine zarte Frau ( höchstens 1,55 m), im abgetragenen Morgenmantel, Zorn im Gesicht und mit dem Bügeleisen drohend. Dabei wussten wir alle, dass sie eigentlich für fast alle Tätigkeiten zu schwach war. Nun aber reagierte sie wie eine Löwenmutter, die ihr Junges verteidigt!
Ich habe mir oft überlegt, ob sie das Eisen wirklich auf das Haupt eines Kontrolleurs geschmettert hätte, der nachschauen wollte, ob ein 14jähriger Junge lieber zu Hause sein wollte als das Vaterland zu verteidigen....

Wenige Tage vor Weihnachten war der Strom wieder mal ausgefallen. Oma hatte Kerzen vom Küchenschrank geholt, da es schon dunkel war. Mutter sagte, wir könnten jetzt eigentlich einen Rosenkranz beten und dabei den lieben Gott bitten, dass Vater bald wieder nach Hause käme.
Das taten wir und plötzlich klingelte es. Ich dachte sofort: "Das ist Vater! Wir haben so sehr dafür gebetet!"
UND er war's!!! Franz Wilhelm war irgendwie starr am Tisch sitzen geblieben, statt wie sonst bei jedem Klingeln in die obere Etage zu rennen.

Es war eine unglaubliche Freude und Aufregung und unsere Eltern, die sehr selten in unserer Gegenwart irgendwelche Zärtlichkeiten austauschten, nahmen sich wortlos in die Arme!!!

Nun konnten wir uns doch noch auf das Weihnachtsfest freuen!!
 
Die Hauptfeier war bei uns am Heiligen Abend. Wir durften schon zwei Tage nicht ins sogenannte Herrenzimmer, dort war der Weihnachtsbaum und wurde geschmückt. Auch das Wohnzimmer war am 24.12. für uns tabu: dort wurde der Weihnachtstisch fertig gemacht; die Eltern schliefen zwar dort – da Mutter ja nicht mehr rauf ins Schlafzimmer gehen konnte. Aber sie gab natürlich alle Anweisungen, die Oma und Vater und wahrscheinlich in dem Jahr schon meine älteste Schwester Margret (13 J.) ausführten.

Aber ständig erklang die Sirene und wir mussten in den Bunker oder zumindest in den Keller und so entschlossen sich die Eltern, in diesem Jahr erst am Morgen des 1.Weihnachtstages nach dem Frühstück die Weihnachtsfeier und die Bescherung zu machen. Wahrscheinlich hofften sie, dass am 25.12 doch mal Waffenruhe sein würde. Das hatte es in den vergangenen Jahren durchaus zur Weihnachtszeit gegeben.

Nach dem Frühstück erklang also auf einmal Musik aus dem Weihnachtszimmer: Vater spielte auf der Geige Ihr Kinderlein kommet ... auf diese Weise hatte er uns immer sozusagen wortlos ins Zimmer gerufen.
Wir gingen also singend ins Weihnachtszimmer, Mutter saß schon dort in einem Sessel, Oma setzte sich dazu, der Weihnachtsbaum erstrahlte und war wunderschön geschmückt. Die Krippe stand dort und ich staunte das alles wieder an!

Wir sangen mehrere Lieder, der eine oder die andere sagte ein Gedicht und Mechthild, die Jüngste (5 J. alt) sang ganz allein:

(von Vater mit der Geige begleitet)

"Christkindele, Christkindele, komm doch zu uns herein.
Wir haben ein Heubündele und auch ein Gläschen Wein.
Das Bündele fürs Eselein fürs Kindele das Gläselein!
Und beten und beten und beten können wir auch!"

Das Lied hatte vor zwei Jahren noch ich solo gesungen. Aber dafür war ich jetzt schon zu groß! Schließlich war ich schon 8 Jahre alt und wusste schon seit über einem Jahr, dass nicht das Christkind sondern die Eltern und die Oma und auch noch Tanten die Geschenke besorgten und den Baum und das ganze Weihnachtszimmer schmückten! Aber das würde ich der Kleinen nicht verraten.

Als wir schließlich jubelnd ein Geschenk nach dem andern auspackten, erklangen schon wieder die Sirenen: Fliegeralarm!

Jeder wusste, was zu tun war. Mäntel anziehen, die fertig gepackte Tasche umhängen, Mutter und Franz Wilhelm gingen in den Keller, Mutter von ihrem Mann und ihrem großen Sohn mehr getragen als gestützt, wir übrigen marschierten ab in den Bunker. Nicht ohne Mutter vorher zu fragen, ob wir ein Geschenk mitnehmen könnten, um es den andern Kindern im Bunker zu zeigen.

An diesem Tag ging es mindestens 5 mal in den Bunker aber ich erinnere mich nicht an Angst, sondern daran, dass ich jedes mal ein anderes Geschenk mitnehmen durfte, um es den andern Kindern zu zeigen, die das im übrigen genau so machten. Es waren nur einfache Sachen und gewiss nicht teuer, aber erfüllten uns mit großer Freude. Und die größte Freude war , dass Vater und großer Bruder wieder zu Hause waren.

Ich habe mich (sehr viel später) darüber gewundert, wie Vater und Mutter es fertig gebracht hatten, dass unsere Angst sich so sehr in Grenzen hielt, wenn wir nur zusammen sein konnten!!

--

Das war das neunzehnte Türchen mit Buck und Engelbert, Elfis 15-Minuten-Weihnachten-Box,
dem Interview mit Ingrid/Ile, Onyxias Rotkehlchenkarten und Elisabeths Weihnachts-Geschichte aus 1944.

    

zurück zur Kalenderblatt-Hauptseite

Kalenderblatt-Archiv