Könnt Ihr Euch an die Geschichte
Weihnachten 1944
von Elisabeth J. erinnern ?
Wo der Vater aus dem Krieg zurückkam und die Familie dann doch mit
Unterbrechungen durch Fliegeralarm gemeinsam Weihnachten feiern konnten ?
Es gibt noch eine Geschichte ... die von Elisabeths (mittlerweile verstorbenen)
Mann Bernhard ... auch er hat über das Weihnachtsfest des gleichen Jahres eine
Geschichte zu erzählen ... wie es damals bei seiner Familie war ... die
Geschichte ist in ich-Form ...
... Bernhard erzählt:
Das Weihnachtsfest 1944 war sicher das Beeindruckendste
meiner Kindheit - eigentlich kann man sagen: es war ein Wendepunkt, der das Ende
meiner Kindheit ankündigte.
Um zu verstehen, wie es zu alledem gekommen ist, muss ich ein wenig ausholen.
Die ersten 10 Jahre meines Lebens verbrachte ich als Großstadtjunge in Dortmund.
Unsere Familie (Vater, Mutter, wir drei Kinder) lebte mit den Großeltern, Eltern
meiner Mutter, zusammen in deren Wohnung.
Sie hatten uns zwei Zimmer abgetreten und mein Vater hatte einen kleinen Anbau
(zum Glück wohnten wir im Parterre), der hinten zum Hof hinausging ausgebaut,
und so hatten wir ein wenn auch unheizbares Zimmerchen dazu bekommen.
1939 (da war ich 6 Jahre alt) verließ uns die Großmutter, um ihre schwerkranke
Tochter Liesel zu pflegen und deren 6 Kinder zu versorgen. Das Leben mit dem
Großvater war nicht leicht.
1942 wurde mein Vater eingezogen und kam nur noch selten nach Hause. Nicht
einmal Ostern 1943, als mein jüngerer Bruder Engelbert zur Erstkommunion ging,
konnte er dabei sein.
Und auch nicht, als wir im Sommer 1943 die Aufforderung erhielten, uns mit
soviel Gepäck, wie wir tragen konnten, auf dem Hauptbahnhof einzufinden. Damals
war ich 10 Jahre alt, mein Bruder 8 und meine Schwester Hildegard 6 Jahre. Wir
sollten evakuiert werden, da Dortmund immer mehr gebombt wurde. Zumindest hatten
wir es nicht weit, wir wohnten ganz nah vom Bahnhof, was natürlich eine
gefährliche Lage im Krieg war. Die Bahnhöfe der Industriestädte waren ein
bevorzugtes Ziel der Bomben. Auch unser Großvater packte seinen Koffer und
begleitete uns.
Es begann eine lange Fahrt in Richtung Sauerland. An vielen Stationen hielten
wir an, und es kamen die Bürgermeister oder Ortsvorsteher an den Zug, und
suchten sich die Familien aus, die sie in ihrem Ort unterbringen konnten.
Schließlich kamen wir auch an die Reihe. Der Bahnhof lag in Laasphe und wir
wurden auf einem Pferdekarren in eine kleines Dorf, Puderbach, gebracht, das
etwa 7 km entfernt lag. Damals nicht und noch bis heute nicht gab es einen Bus,
der das Dorf mit den umliegenden Ortschaften oder wenigstens mit Laasphe
verbunden hätte.
Im Dorf angekommen, hatten wir erst mal eine böse Überraschung: Wir wurden
getrennt. Mutter mit meiner kleinen Schwester kam zu dem einen Bauern und der
Großvater und wir beiden Jungen zu einem andern.
Dem Großvater gefiel das Ganze überhaupt nicht, er packte seinen Koffer und
machte sich auf den Weg nach Laasphe und zurück nach Dortmund.
Er hatte Mutter versprochen, alle ihre Möbel und ihr restliches Hab und Gut zu
verpacken, auf einen Güterwagen der Reichsbahn zu bringen und dafür zu sorgen,
dass das alles in Laasphe ankam.
Er hielt sein Versprechen, was sicher nicht leicht war, und drei Tage lang
standen die ganzen Sachen auf dem Hauptbahnhof in einem Güterwagen. Noch war
kein Zug zusammengestellt worden, der die Sachen weitertransportierte.
Dann kam ein furchtbarer Angriff, Das ganze Viertel um den Bahnhof herum wurde
vollständig zerstört. Mein Großvater hatte das nackte Leben und seinen Koffer
retten können; er war in einen Bunker gegangen. Er hatte sonst ALLES verloren.
Der Bahnhof war wie durch ein Wunder kaum getroffen und nach einiger Zeit kamen
alle unsere Sachen an.
Inzwischen hatte meine Mutter sich durchgesetzt und auf einem andern Bauernhof
zwei ziemlich große Zimmer bekommen. Der Wasserkran war auf dem Flur und die
Toilette auf dem Hof: Aber wir waren wieder zusammen und sie verstand es, mit
ihren Möbeln und andern Dingen die Wohnung gemütlich zu machen. Mein Vater kam
uns besuchen, er meldete uns alle in Puderbach/Laasphe an. Unser Zuhause in
Dortmund gab es nicht mehr. Weihnachten 1943 bekam er keinen Heimaturlaub und
war überhaupt nur drei mal in Puderbach.
Unsere Familie fühlte sich wider Erwarten wohl in Puderbach, einem Ort mit etwa
300 Leuten. Die Umstellung war groß, z.B. von einer mehrgliedrigen Volksschule
nun in eine einklassige Dorfschule, wo alle Jahrgänge nach einem ausgeklügelten
Plan in EINEM Klassenraum unterrichtet wurden. Aber das Dorfleben bot mir viel
Abwechslung, ich bekam einen ganz andern Bezug zur Natur.
Das ist eigentlich die Vorgeschichte ... jetzt ein Sprung in die Adventszeit
1944.
Mein Vater hatte uns Wochen vorher ein Foto von sich geschickt ...
... und geschrieben, dass er wahrscheinlich wieder nicht zum Weihnachtsfest da
sein konnte. Er bat darum, dass wir ein aktuelles Foto von uns machen lassen
sollten und ihm schicken.
Links das bin ich.....
Wenige Tage vor Weihnachten bekamen wir plötzlich Feldpost und er schrieb, er
würde DOCH Weihnachten kommen. Die Freude war groß. Er käme am 24.12.1944
nachmittags am Bahnhof Laasphe an.
Es war ein sehr schneereiches Jahr. Keiner von uns hatte lange Hosen. Wohl lange
Strümpfe... auch wir Jungen und hohe Schuhe. Wir stapften durch den Schnee ... 7
km von Puderbach nach Laasphe. Nichts war geräumt. Wir zogen einen Schlitten,
auf dem meist meine kleine Schwester saß.
Der Weg schien keine Ende zu nehmen. Es war dunkel und kalt. Aber wir freuten
uns so sehr auf unsern Vati. Mutti meinte, man wüsste zwar nie genau, WANN die
Züge ankämen, aber sie hoffte, dass wir rechtzeitig da wären. Um uns bei Laune
zu halten, sang Mutti mit uns Weihnachtslieder.
Nun waren wir schon ziemlich nahe an Laasphe, da sahen wir plötzlich eine
Gestalt auf uns zukommen. Sie erschien uns riesengroß und ungeheuer dick. Die
Dunkelheit und auch der Schnee, der ständig fiel, verzerrten die Formen. Mein
Bruder schrie: “Ein Ungeheuer!” Meine Schwester fing an zu weinen ... ich
versuchte tapfer zu sein - war schließlich der Älteste und schon 11 Jahre alt.
Da sagte Mutti plötzlich:
“Kinder - es ist der Vater!”
Er sah so unförmig aus, mit seinem dicken Mantel, der Soldatenmütze, dem großen
Rucksack, woran noch Helm und Essgeschirr hingen und eine Decke gerollt
festgebunden war. Außerdem hatte er sein Gewehr bei sich.
Wir stürmten auf ihn zu, so gut das ging und wir waren sooo glücklich ...
unbeschreiblich. Sein ganzes Gepäck legte er auf den Schlitten, irgendwie passte
meine kleine Schwester auch noch drauf und dann zog er den Schlitten. Der Weg
zurück war auch schwierig, aber unsere Herzen waren so leicht.
Es wurde ein wunderbares Weihnachtsfest. Mit Tannengrün und Kerzen, mit Liedern
und Gedichten. Und immer wieder klammerten wir uns an den Vater und er musste
erzählen. Er erzählte sorgsam zensierte Geschichten. Allerdings hatte er es bis
dahin relativ gut gehabt; er war Besatzungssoldat in Norwegen gewesen.
Am zweiten Weihnachtstag sagte er zu mir: "Berni, wir beide gehen mal
spazieren!". Ich war froh und stolz, die beiden Geschwister sahen uns etwas
unglücklich nach.
Er sagte mir, er habe bereits den Befehl erhalten sich bei einer Truppe zu
melden, die an die Ostfront geschickt würde. Und dann sah er mich ernst an und
sagte: "Berni, ich werde wohl nicht wiederkommen! Du bist der Älteste, pass auf
Mutti und die beiden Kleinen auf. Ich verlasse mich auf Dich!"
Ich konnte nicht
antworten, ein Kloß saß mir im Hals.
Dann nahm er seinen silbernen Siegelring
ab, worauf die Initialen B J eingraviert waren. Den hatte er sich als junger
Mann mal gekauft. Es sind ja auch MEINE Initialen. Den schenkte er mir ... da
wurde mir erst so richtig klar, was er vorher gesagt hatte: dass er
wahrscheinlich nicht wiederkommen würde ...
Ich weiß nicht, wie ich den Abend und die Nacht verbracht habe ... am 27.12.
musste er sich wieder auf den Weg machen. Wir brachten ihn alle zum Bahnhof.
Und er hatte recht: Er kam nicht wieder. Im März 1945 erhielten wir die
Vermisstenmeldung.
Nach dem Krieg versuchte meine Mutter jahrelang, verlässliche Nachrichten zu
bekommen über das DRK. Vergeblich.
Anfang 1952 wurde er dann für tot erklärt.
Aber ich habe es immer als Geschenk betrachtet, dass er Weihnachten 1944 noch
bei uns war.
So traurig die Geschichte ist, so gab es doch unendlich viele ähnliche
Schicksale in der damaligen Zeit. Weil sie so traurig endete, hatte ich sie
nicht im Adventskalender, der ja einer der VorFREUDE ist, veröffentlicht ...
aber jetzt nach Weihnachten ist es doch mal wichtig, auch eine solche Geschichte
zu zeigen.
Jetzt kann ich auch sagen, dass Elisabeths Opa, der in der anderen Geschichte so
schön Geige gespielt hat, an diesem Weihnachtsfest zum letzten Mal Geige
gespielt hatte, weil er danach verwundet wurde und nie wieder dieses
Musikinstrument spielen konnte.
Weihnachten 1944 ... so ganz anders wie heute, 72 Jahre später ...
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