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5. Juli 2017


Viel Text, kein Bild heute ??

Aber nein ... viel mehr Bilder als sonst ... denn beim Lesen
des nachfolgenden Textes entstehen unendlich viele Bilder im Kopf.
Es lohnt sich, mit den Augen den Zeilen und den Gedanken zu folgen.

Eine kleine Reise in die Vergangenheit ...

... eine kleine Reise in die ...

Indianerwälder

Wir hatten alles. Wenn wir damals, 10 Jahre alt, beide und von Anfang an befreundet vor die Tür gingen, gab es zunächst einmal eine Blumenwiese mit Margeriten, Wiesenschaum und etlichen bunt blühenden Pflanzen und
Pflänzchen, deren Namen keiner wusste, die aber alle zusammen einen Teppich bildeten, der jährlich erneuert wurde. Liefen wir durch dieses bunte Gras, waren wir schnell am Waldrand, der hinter der Straße begann.

Die Straße, ein besserer Feldweg mit Schlaglöchern, so groß wie kleine Seen zwischen denen es Land gab, das unbewohnt war, wenn nicht ein Igel versuchte, trockenen Pfötchens dieses Schotterband zu überqueren. Der Wald war schon lange vor uns da mit seinen riesigen Bäumen, teils Buchen so dick wie Elefantenbäuche, mit einer Haut genauso wie diese.

Glänzend nach dem Regen und vernarbt durch alles, was sie verletzte. Wir schnitzten unsere Buchstaben in sie und wollten sie später wieder finden, wenn wir "groß" waren wie die Erwachsenen. Machten uns Gedanken darüber, ob die Buchstaben wohl mit in die Höhe wachsen würden, oder von der unverletzten Rinde überzogen, so dass nichts mehr davon übrig blieb wie von unserer Jugend.

Der Wald war unser "Revier". Außer mit dem Förster teilten wir ihn mit niemandem, und duldeten keinen in ihm außer uns, denn für wen war er gewachsen, wenn nicht für uns? Der Förster war der Hüter des Waldes und
konnte zum Feind werden, wenn er unsere Schnitzereien nicht gut fand, oder kein Verständnis hatte für all den anderen Schabernack, der Jungs im Alter von 10 Jahren so einfiel.

Ende der Fünfziger Jahre wurde Holz gesammelt für Badeöfen oder grüne Kachelöfen, die Wärme gaben, so anders als Heizungsluft. Bevor man sie zerschlug und gegen die bequeme Wärme austauschte waren sie im Winter große grüne Kuscheltiere, an die man sich gern anlehnte, und ab und zu einen Bratapfel abbekam, der in der heißen Zone vor sich hin paffte.

Verbrannte die Haut eines rauen "Boskops", gab es diesen sauren, rauchigen Duft, den man heute nur noch mit aufmerksamer Nase auf Weihnachtsmärkten erschnüffelt. Dann bleibe ich oft abrupt stehen und verursache einen menschlichen Verkehrsstau, der mir in dem Moment völlig egal ist, Hauptsache noch einen Lungenzug von Damals ...

Nach über 40 Jahren Rückschau sind diese Gerüche selten geworden und dadurch sehr kostbar. Davon gab es damals viele. Wenn das Wetter feucht war nach einer längeren Periode der Wärme, liefen bei Regen kleine Bäche an den Buchen herunter, die immer dieselben Bahnen nahmen. Sie liebten die grüne Seite der Bäume, die "Wetterseite". Manche dieser Riesen hatten sich ein kleines Bassin gebaut an ihrem Fuß, um Vorrat anzulegen für durstige Zeiten.

Durch das Laubdach herrschten Lichtverhältnisse wie in einem Aquarium. Schattiges Grün mit Sprenkeln von Sonnenlicht auf dem Laub vom letzten Jahr und vom vorletzten und dem davor. Viele Schichten bildeten die Basis für Pilze. Giftige, wie essbare. Schon früh lernten wir zu unterscheiden, und die Tatsache, dass ich hier von damals erzähle zeigt, dass wir so falsch nicht lagen mit unseren Kenntnissen.

Wir brauchten keine Spielsachen, keinen Computer und keinen Fernseher. Schlicht weil es sie einfach noch nicht gab, und wenn es sie gegeben hätte, wäre alles Leben im Wald spannender gewesen. Hier konnten wir uns unsere Märchen ausmalen und in einer Welt leben, in der nur der Revierförster Zugang hatte.

Betraten wir den Wald, zogen wir hinter uns einen grünen Vorhang zu und durchstöberten jeden Winkel dieses Labyrinths. Machten weite Ausflüge zu Steinbrüchen, die still gelegt waren, oder zwängten uns durch dunkle
Tannenschonungen, dem Zufluchtsort für Wildschweine oder Muffelwild.

Umgestürzte Bäume rissen häufig einen großen Krater, und Wurzeln mit Erde reckten sich hoch wie Dinosaurier. Diese bekämpften wir mit Pfeil und Bogen, konnten sie aber wegen ihrer Größe nie zerlegen und als Beute nach
Hause schleppen.

Die Steinbrüche waren hoch im Wald, der anstieg, und sie waren es auch, die uns in unserer Fantasie reichlich beschäftigten. Hier gab es die Pflanzen, die sonst nirgends waren. Moosecken und Birken, Steilhänge, Klippen und Abbruchkanten, an denen sich junge Tannen verzweifelt gegen den Absturz wehrten. In den Tümpeln am Fuß, wo niemals die volle Sonne schien, war es muffig feucht, und in ihnen spiegelten sich Farne in unseren Köpfen aus einer Welt wie damals zur Zeit der großen Echsen, der Saurier.

Für uns war es ein Blick in die Vergangenheit, in die wir sahen, und außer uns sah sie niemand. Auch wollten wir in die Zukunft sehen. Was wird aus uns in 10 - 20 Jahren? Die Gespräche damals waren durchaus ernst für unser Alter, und 20 Jahre alt zu sein erschien uns ebenso weit entfernt wie heute 10.

An Stellen, die trotzdem die Sonne erreichte, war das klare Wasser warm, und Feuersalamander in den Vereinsfarben von "Borussia Dortmund" suchten nach Gegnern. Lurche wurden gefangen genommen und im Bach vor dem Haus wieder ausgesetzt. Wir streiften durchs Laub und bewegten uns
möglichst geräuschlos - Indianer machen keine Geräusche.

Der Farn überragte uns gewaltig und schützte uns davor, von Feinden aus der Luft gesehen zu werden. Wir empfanden keine Zeit, da sie aufgelöst war. Keine Zeiger bewegten sich, keine Mittagsstunde, in der pünktlich gegessen wurde galt für uns. Sie war für die Fremden, Unwissenden, für die außerhalb des Waldes.

Es gab gefährliche Begegnungen, wenn kleine Wildschweine den Weg kreuzten und die Alte in der Nähe war. Dann wurden wir zu Salzsäulen, die sich nicht bewegen durften. Nur jetzt keinen Lärm machen, kaum atmen -
denn wer wusste wo sie war? Den Fuchsbau mit seinen Jungen kannten wir so gut wie heute die Kinder die
Anfangszeiten ihrer Lieblingssendungen im Fernsehen, nur dass unser Programm greifbarer war und keine Werbung zwischendrin von all den Dingen, die man nicht braucht.

Wir waren mutig uns gegenseitig zu beweisen, wer sich am längsten auf dem umgestürzten Baumriesen halten konnte, und balancierten auf ihm bis zur Spitze, die jetzt erreichbar war. So erreichbar wie vieles, das wir erreichen wollten. Wenn der Waldbach zu breit war, sprangen wir trotzdem, landeten im sumpfigen Matsch fast am Ziel. Er trocknete bis zum Abend bevor es in die Wanne ging.

Im Sommer gab es Unken vor dem Schlafzimmerfenster und Grillen. Sie brachten uns mit ihren Lauten in einen Schlaf mit aufregenden Abenteuern, die den wirklich erlebten in nichts nachstanden.

Ja, wir hatten das Gefühl, die Ewigkeit zu berühren und wunderten uns, wenn die sechs Wochen Ferien vorbei waren, kurz nachdem sie begonnen hatten. Ein zu schnell vorgeführter Film, in dem man gleichzeitig Zuschauer und Hauptdarsteller war. Und alles Rufen half nichts ihn doch zu stoppen für einen Moment, ihn festzuhalten in einem einzigen Bild, das alles zeigte.

Es musste einen großen Rahmen haben, denn alles sollte sichtbar sein, und niemand vergessen von denen, die damals noch lebten, und von niemand festgehalten werden konnten. Sie verließen das Bild des Lebens. Sprangen ab vom Baum, auf dem sie sich auf dem Weg zur Spitze gehalten hatten, bis ein kalter, starker Wind sie zum Sprung zwang ...

Etwas musste es sein, fragten wir uns damals, das so unterschiedlich war im Zeitrahmen, der jedem zur Verfügung stand. Gab es für den Einen lange Bäume, die den Weg des Lebens begehbar machten, waren sie bei Anderen kürzer und glatter. Wer steckte dahinter und konnte uns antworten?

Einfacher war schon zu sagen, wie ein Frosch von innen aussah. Das wurde ausprobiert. Im Wasser des gestauten Baches bewegten sich kleine Fische, manchmal Forellen mit ihren glitzernden Geschichten auf dem Rücken. Sie waren kalt und glatt, wenn man eine erwischte hinter den Steinen.

Diese Berührungen mit der Natur waren der Unterschied zu den Möglichkeiten von heute. Abgesehen davon, dass durch Kunstdüngung die Felder mehr Ertrag brachten, dafür aber keine Fische im Bach übrig ließen, hatte man heimlich und schleichend die Natur umgebaut. Waren es kleine Feldstücke, die damals bewirtschaftet wurden, sind es heute große Flächen Einheitskultur, auf die man sieht. Alles wurde gleichgemacht, und
Riesentrecker pflügten bis zum Rand der Straße, wo früher Kamille in Wolken standen und Mohn wuchs.

Das Heu rochen wir wochenlang, ehe es von der Wiese verschwand, und Korn wurde gebündelt, und wie gelbe Schleifen ins Stoppelhaar des Feldes gesetzt. Jeder packte mit an, wenn es reif und trocken war und auf großen Leiterwagen zum Dreschen gefahren wurde. Das, was die Mechanisierung uns auf der einen Seite brachte, nahm sie uns auf der anderen wieder weg.

Heute haben wir soviel Zeit "gewonnen", dass wir in Urlaube fahren können, um uns in fernen Ländern wieder Bauern anzusehen, die noch mit der Sense umgehen müssen, und finden es toll, wie weit wir schon sind und die nicht. Woher kommt aber die Unzufriedenheit in unseren Herzen, die Ruhelosigkeit in unserer Seele? Haben wir uns zu weit von der Erde entfernt? Wollen wir zu Vieles zu schnell und legen es halb gelesen zur Seite?

Rockkonzerte, von dickbauchigen Oldies inszeniert, erleben einen Boom wie nie zuvor, und es sind nicht nur die Väter, die begeistert sind. Auf der Bühne singen sie die Texte von damals, in denen sich der Himmel widerspiegelt über Indianerland und Zauberwald.

Und für einen unscheinbaren Moment stehen sie inmitten einer ausverkauften Gegenwart, dicht gedrängt und sehen auf Riesenleinwänden die Heros von damals, und würden mehr geben als nur das Eintrittsgeld für zweieinhalb Stunden Vergangenheit.

Es ist die Schnelllebigkeit, die ablenkt vom Wesentlichen. Sie entwurzelt und jagt weiter auf den Programmseiten der Fernsehzeitschriften. Indianerprogramme schreibt man selber in seinem Kopf, und geht dann einfach über eine Wiese mit buntem Gras, überquert die Straße aus Schotter, bevor man durch den Farn in den Wald kommt. Hinter uns aber schließt sich das helle Grün, wenn wir leise genug sind es noch zu hören.

[ Text: Burkhard Jysch ]



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