Viel Text, kein Bild heute
??
Aber nein ... viel mehr Bilder als sonst ... denn beim Lesen
des nachfolgenden Textes entstehen unendlich viele Bilder im Kopf.
Es lohnt sich, mit den Augen den Zeilen und den Gedanken zu folgen.
Eine kleine Reise in die Vergangenheit ...
... eine kleine Reise in die ...
Indianerwälder
Wir hatten alles. Wenn wir
damals, 10 Jahre alt, beide und von Anfang an befreundet vor die Tür
gingen, gab es zunächst einmal eine Blumenwiese mit Margeriten,
Wiesenschaum und etlichen bunt blühenden Pflanzen und
Pflänzchen, deren Namen keiner wusste, die aber alle zusammen einen
Teppich bildeten, der jährlich erneuert wurde. Liefen wir durch dieses
bunte Gras, waren wir schnell am Waldrand, der hinter der Straße begann.
Die Straße, ein besserer Feldweg mit Schlaglöchern, so groß wie kleine
Seen zwischen denen es Land gab, das unbewohnt war, wenn nicht ein Igel
versuchte, trockenen Pfötchens dieses Schotterband zu überqueren. Der
Wald war schon lange vor uns da mit seinen riesigen Bäumen, teils Buchen
so dick wie Elefantenbäuche, mit einer Haut genauso wie diese.
Glänzend nach dem Regen und vernarbt durch alles, was sie verletzte. Wir
schnitzten unsere Buchstaben in sie und wollten sie später wieder
finden, wenn wir "groß" waren wie die Erwachsenen. Machten uns Gedanken
darüber, ob die Buchstaben wohl mit in die Höhe wachsen würden, oder von
der unverletzten Rinde überzogen, so dass nichts mehr davon übrig blieb
wie von unserer Jugend.
Der Wald war unser "Revier". Außer mit dem Förster teilten wir ihn mit
niemandem, und duldeten keinen in ihm außer uns, denn für wen war er
gewachsen, wenn nicht für uns? Der Förster war der Hüter des Waldes und
konnte zum Feind werden, wenn er unsere Schnitzereien nicht gut fand,
oder kein Verständnis hatte für all den anderen Schabernack, der Jungs
im Alter von 10 Jahren so einfiel.
Ende der Fünfziger Jahre wurde Holz gesammelt für Badeöfen oder grüne
Kachelöfen, die Wärme gaben, so anders als Heizungsluft. Bevor man sie
zerschlug und gegen die bequeme Wärme austauschte waren sie im Winter
große grüne Kuscheltiere, an die man sich gern anlehnte, und ab und zu
einen Bratapfel abbekam, der in der heißen Zone vor sich hin paffte.
Verbrannte die Haut eines rauen "Boskops", gab es diesen sauren,
rauchigen Duft, den man heute nur noch mit aufmerksamer Nase auf
Weihnachtsmärkten erschnüffelt. Dann bleibe ich oft abrupt stehen und
verursache einen menschlichen Verkehrsstau, der mir in dem Moment völlig
egal ist, Hauptsache noch einen Lungenzug von Damals ...
Nach über 40 Jahren Rückschau sind diese Gerüche selten geworden und
dadurch sehr kostbar. Davon gab es damals viele. Wenn das Wetter feucht
war nach einer längeren Periode der Wärme, liefen bei Regen kleine Bäche
an den Buchen herunter, die immer dieselben Bahnen nahmen. Sie liebten
die grüne Seite der Bäume, die "Wetterseite". Manche dieser Riesen
hatten sich ein kleines Bassin gebaut an ihrem Fuß, um Vorrat anzulegen
für durstige Zeiten.
Durch das Laubdach herrschten Lichtverhältnisse wie in einem Aquarium.
Schattiges Grün mit Sprenkeln von Sonnenlicht auf dem Laub vom letzten
Jahr und vom vorletzten und dem davor. Viele Schichten bildeten die
Basis für Pilze. Giftige, wie essbare. Schon früh lernten wir zu
unterscheiden, und die Tatsache, dass ich hier von damals erzähle zeigt,
dass wir so falsch nicht lagen mit unseren Kenntnissen.
Wir brauchten keine Spielsachen, keinen Computer und keinen Fernseher.
Schlicht weil es sie einfach noch nicht gab, und wenn es sie gegeben
hätte, wäre alles Leben im Wald spannender gewesen. Hier konnten wir uns
unsere Märchen ausmalen und in einer Welt leben, in der nur der
Revierförster Zugang hatte.
Betraten wir den Wald, zogen wir hinter uns einen grünen Vorhang zu und
durchstöberten jeden Winkel dieses Labyrinths. Machten weite Ausflüge zu
Steinbrüchen, die still gelegt waren, oder zwängten uns durch dunkle
Tannenschonungen, dem Zufluchtsort für Wildschweine oder Muffelwild.
Umgestürzte Bäume rissen häufig einen großen Krater, und Wurzeln mit
Erde reckten sich hoch wie Dinosaurier. Diese bekämpften wir mit Pfeil
und Bogen, konnten sie aber wegen ihrer Größe nie zerlegen und als Beute
nach
Hause schleppen.
Die Steinbrüche waren hoch im Wald, der anstieg, und sie waren es auch,
die uns in unserer Fantasie reichlich beschäftigten. Hier gab es die
Pflanzen, die sonst nirgends waren. Moosecken und Birken, Steilhänge,
Klippen und Abbruchkanten, an denen sich junge Tannen verzweifelt gegen
den Absturz wehrten. In den Tümpeln am Fuß, wo niemals die volle Sonne
schien, war es muffig feucht, und in ihnen spiegelten sich Farne in
unseren Köpfen aus einer Welt wie damals zur Zeit der großen Echsen, der
Saurier.
Für uns war es ein Blick in die Vergangenheit, in die wir sahen, und
außer uns sah sie niemand. Auch wollten wir in die Zukunft sehen. Was
wird aus uns in 10 - 20 Jahren? Die Gespräche damals waren durchaus
ernst für unser Alter, und 20 Jahre alt zu sein erschien uns ebenso weit
entfernt wie heute 10.
An Stellen, die trotzdem die Sonne erreichte, war das klare Wasser warm,
und Feuersalamander in den Vereinsfarben von "Borussia Dortmund" suchten
nach Gegnern. Lurche wurden gefangen genommen und im Bach vor dem Haus
wieder ausgesetzt. Wir streiften durchs Laub und bewegten uns
möglichst geräuschlos - Indianer machen keine Geräusche.
Der Farn überragte uns gewaltig und schützte uns davor, von Feinden aus
der Luft gesehen zu werden. Wir empfanden keine Zeit, da sie aufgelöst
war. Keine Zeiger bewegten sich, keine Mittagsstunde, in der pünktlich
gegessen wurde galt für uns. Sie war für die Fremden, Unwissenden, für
die außerhalb des Waldes.
Es gab gefährliche Begegnungen, wenn kleine Wildschweine den Weg
kreuzten und die Alte in der Nähe war. Dann wurden wir zu Salzsäulen,
die sich nicht bewegen durften. Nur jetzt keinen Lärm machen, kaum atmen
-
denn wer wusste wo sie war? Den Fuchsbau mit seinen Jungen kannten wir
so gut wie heute die Kinder die
Anfangszeiten ihrer Lieblingssendungen im Fernsehen, nur dass unser
Programm greifbarer war und keine Werbung zwischendrin von all den
Dingen, die man nicht braucht.
Wir waren mutig uns gegenseitig zu beweisen, wer sich am längsten auf
dem umgestürzten Baumriesen halten konnte, und balancierten auf ihm bis
zur Spitze, die jetzt erreichbar war. So erreichbar wie vieles, das wir
erreichen wollten. Wenn der Waldbach zu breit war, sprangen wir
trotzdem, landeten im sumpfigen Matsch fast am Ziel. Er trocknete bis
zum Abend bevor es in die Wanne ging.
Im Sommer gab es Unken vor dem Schlafzimmerfenster und Grillen. Sie
brachten uns mit ihren Lauten in einen Schlaf mit aufregenden
Abenteuern, die den wirklich erlebten in nichts nachstanden.
Ja, wir hatten das Gefühl, die Ewigkeit zu berühren und wunderten uns,
wenn die sechs Wochen Ferien vorbei waren, kurz nachdem sie begonnen
hatten. Ein zu schnell vorgeführter Film, in dem man gleichzeitig
Zuschauer und Hauptdarsteller war. Und alles Rufen half nichts ihn doch
zu stoppen für einen Moment, ihn festzuhalten in einem einzigen Bild,
das alles zeigte.
Es musste einen großen Rahmen haben, denn alles sollte sichtbar sein,
und niemand vergessen von denen, die damals noch lebten, und von niemand
festgehalten werden konnten. Sie verließen das Bild des Lebens. Sprangen
ab vom Baum, auf dem sie sich auf dem Weg zur Spitze gehalten hatten,
bis ein kalter, starker Wind sie zum Sprung zwang ...
Etwas musste es sein, fragten wir uns damals, das so unterschiedlich war
im Zeitrahmen, der jedem zur Verfügung stand. Gab es für den Einen lange
Bäume, die den Weg des Lebens begehbar machten, waren sie bei Anderen
kürzer und glatter. Wer steckte dahinter und konnte uns antworten?
Einfacher war schon zu sagen, wie ein Frosch von innen aussah. Das wurde
ausprobiert. Im Wasser des gestauten Baches bewegten sich kleine Fische,
manchmal Forellen mit ihren glitzernden Geschichten auf dem Rücken. Sie
waren kalt und glatt, wenn man eine erwischte hinter den Steinen.
Diese Berührungen mit der Natur waren der Unterschied zu den
Möglichkeiten von heute. Abgesehen davon, dass durch Kunstdüngung die
Felder mehr Ertrag brachten, dafür aber keine Fische im Bach übrig
ließen, hatte man heimlich und schleichend die Natur umgebaut. Waren es
kleine Feldstücke, die damals bewirtschaftet wurden, sind es heute große
Flächen Einheitskultur, auf die man sieht. Alles wurde gleichgemacht,
und
Riesentrecker pflügten bis zum Rand der Straße, wo früher Kamille in
Wolken standen und Mohn wuchs.
Das Heu rochen wir wochenlang, ehe es von der Wiese verschwand, und Korn
wurde gebündelt, und wie gelbe Schleifen ins Stoppelhaar des Feldes
gesetzt. Jeder packte mit an, wenn es reif und trocken war und auf
großen Leiterwagen zum Dreschen gefahren wurde. Das, was die
Mechanisierung uns auf der einen Seite brachte, nahm sie uns auf der
anderen wieder weg.
Heute haben wir soviel Zeit "gewonnen", dass wir in Urlaube fahren
können, um uns in fernen Ländern wieder Bauern anzusehen, die noch mit
der Sense umgehen müssen, und finden es toll, wie weit wir schon sind
und die nicht. Woher kommt aber die Unzufriedenheit in unseren Herzen,
die Ruhelosigkeit in unserer Seele? Haben wir uns zu weit von der Erde
entfernt? Wollen wir zu Vieles zu schnell und legen es halb gelesen zur
Seite?
Rockkonzerte, von dickbauchigen Oldies inszeniert, erleben einen Boom
wie nie zuvor, und es sind nicht nur die Väter, die begeistert sind. Auf
der Bühne singen sie die Texte von damals, in denen sich der Himmel
widerspiegelt über Indianerland und Zauberwald.
Und für einen unscheinbaren Moment stehen sie inmitten einer
ausverkauften Gegenwart, dicht gedrängt und sehen auf Riesenleinwänden
die Heros von damals, und würden mehr geben als nur das Eintrittsgeld
für zweieinhalb Stunden Vergangenheit.
Es ist die Schnelllebigkeit, die ablenkt vom Wesentlichen. Sie
entwurzelt und jagt weiter auf den Programmseiten der
Fernsehzeitschriften. Indianerprogramme schreibt man selber in seinem
Kopf, und geht dann einfach über eine Wiese mit buntem Gras, überquert
die Straße aus Schotter, bevor man durch den Farn in den Wald kommt.
Hinter uns aber schließt sich das helle Grün, wenn wir leise genug sind
es noch zu hören.
[
Text: Burkhard Jysch ]
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