Ein Märchen mit zwei Bildern, von Karin Heinrich geschrieben und gemalt:
Es war einmal ein junger Hirte, der sich durch und durch mit der Natur verbunden
fühlte.
Er kannte jeden Baum, jeden Strauch und jedes Kräutlein.
Auch über die Tiere wusste er Bescheid.
Vom kleinsten Käfer bis zum König der Lüfte waren ihm die meisten bekannt.
Er nutzte jede Gelegenheit, sie zu beobachten und las in Büchern über sie.
Wer ihn etwas fragte, bekam immer eine sachkundige Antwort.
Am glücklichsten war der Hirte, wenn er den ganzen Tag im Freien mit seinen
Tieren verbringen konnte.
Jedes einzelne Schaf seiner Herde war ihm ans Herz gewachsen.
Kein Wunder, denn das Schaf war sein Lieblingstier.
Doch er hatte noch ein anderes Lieblingstier, das war der Wolf,
der im Wald mit anderen Wölfen zusammen im Rudel lebte.
Um den Wolf ranken sich seit Jahrhunderten viele Sagen, Märchen, Fantasien und
vor allem Vorurteile,
die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.
Meist wird er als Bösewicht dargestellt.
Eine gute Nachbarschaft von Mensch und Wolf ist möglich, das haben nur noch
nicht alle begriffen.
Der Wolf ist ein sehr scheues und vorsichtiges Wildtier mit wachsamen Augen und
prächtigem Fell.
Natürlich muss das eine oder andere Tier daran glauben, wenn er auf Jagd geht.
Schließlich braucht er als Beutegreifer Nahrung, um leben zu können.
Zum Glück war es noch nicht vorgekommen, dass ein Wolf eines seiner Schafe riss,
denn zwei treue Hütehunde sorgten dafür, dass sich kein Schaf von der Herde
absonderte und in Gefahr geriet.
Eines Nachts erschien dem Hirten im Traum eine Fee.
Sie trug einen duftenden Blütenkranz im Haar.
Ihr Gewand war ein Hauch von weißer Seide, geschmückt mit bunt schillernden
Vogelfedern.
Sie sprach zu ihm: "Seit langem beobachte ich dich und freue mich,
weil du dich für die Natur und die Tiere einsetzt.
Heute sollst du eine Belohnung erhalten. Ich werde dir einen Wunsch erfüllen."
Der Hirte überlegte eine Weile und sprach dann:
"Zu gern möchte ich ein einziges Mal erleben, dass meine Lieblingstiere,
die Schafe und Wölfe, im besten Verstehen und Miteinander um mich herum sind,
sich bei mir wohlfühlen und wir zusammen einen schönen Tag haben.
Die Schafe ohne Angst vor den Wildtieren, die Wölfe voller Zärtlichkeit zu den
Haustieren."
Die Fee reichte ihm lächelnd ein aus edlem Holz geschnitztes Instrument und
sagte:
"Wenn du auf dieser Flöte spielst, wird dein Wunsch in Erfüllung gehen.
Aber merke dir gut, du darfst nur an einem einzigen Tag auf ihr spielen und zwar
am ersten Weihnachtstag.
Benutzt du sie an einem anderen Tag, verliert sie ihre Zauberkraft."
Der Hirte bedankte sich für das Geschenk und die Fee verschwand lautlos wie sie
gekommen war.
Am Morgen rieb sich der Hirte die Augen und seufzte:
"Schade, dass alles nur ein Traum war."
Doch wie staunte er, als er neben seiner Schlafstätte eine Flöte fand.
Er betrachtete sie von allen Seiten. "Das muss das Geschenk der Fee sein",
dachte er, "wie soll sie sonst hierhergekommen sein?"
Am liebsten hätte er sie gleich an seine Lippen geführt und seinen Atem
hineingeblasen,
um zu hören, wie sie klingt.
Es zuckte und kribbelte in seinen Fingern.
Aber er erinnerte sich daran, was ihm die Fee gesagt hatte.
Er wickelte die Flöte in ein Tuch, legte sie beiseite und rührte sie nicht mehr
an.
Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.
Jeden Tag geriet er aufs Neue in Versuchung, auf der Flöte zu spielen.
Nach vielen Tagen, Wochen und Monaten war endlich Weihnachten.
"Jetzt wird sich zeigen, ob mein Wunsch in Erfüllung geht", sagte der Hirte.
Er holte die Flöte hervor, setzte sich zu seinen Schafen und begann zu spielen.
Wie von unsichtbarer Hand geöffnet tat sich das Stalltor auf und die Wölfe
schlichen herein,
mischten sich unter die Schafe und machten es sich gemütlich.
Alle lauschten andächtig der wohlklingenden Melodie und kuschelten sich eng
aneinander.
Einer der Wölfe war so ergriffen von der lieblichen Musik, dass er zu heulen
begann.
Aber es war nicht das sonst übliche Wolfsgeheul, sondern es war wie eine zweite
Stimme
zum Flötenspiel des Hirten, ganz sanft und keineswegs furchterregend.
Die harmonischen Klänge füllten den Raum und sorgten für Wohlbefinden und
Zufriedenheit.
So hatte es sich der Hirte gewünscht, seine Lieblingstiere in bester Eintracht
um sich vereint.
Ein tiefes Glücksgefühl machte sich in ihm breit und durchströmte seinen Körper.
Ja, es war Weihnachten.
Streit und Zwietracht waren vergessen und keiner tat dem anderen ein Leid an.
Als am späten Abend die Flöte verstummte, bedankten sich die Tiere beim Hirten
für dieses wunderbare Erlebnis.
Die Wölfe trotteten friedlich zurück in den Wald und alles war wieder wie zuvor.
"Warum kann nicht an jedem Tag Weihnachten sein?", fragte eines der Schafe.
weiter