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1. November 2019


Die Lärchentür

[ von Burkhard Jysch ]

Als ich Mitte Zwanzig war, machten meine Frau und ich eine Bergwanderung.
Wir fuhren nach Südtirol, wanderten auf schmalen, dem Berg angelehnten Wegen
oberhalb von Meran durch die Weinhänge, hörten einen Bach neben uns fließen,
der die Rebstöcke mit Wasser versorgte, und trafen schließlich auf einen Ort,
der ein gutes Stück abseits der normalen Wanderwege lag.
Eine Bergkapelle fügte sich in eine Felsformation, als weigerte sich der Stein,
aus dem sie gebaut war, die Wand zu verlassen, wie alle anderen Steine der Umgebung,
um dem kalt rauschenden Bach zu folgen, der an ihrer Seite vorbeischoss.

Ihr Dach war gedeckt mit grauem Schiefer, steil aufragend wie ein Dolch,
die Blöcke ihrer Wände glitzerten in der Spätnachmittagssonne ganz besonders,
wenn Wasser über die Quader spritzte.
Von ihren Fenstern sah ich nur Nischen, in denen sich Spinnweb hielt.
Das Gebäude hatte etwas Abweisendes und gleichzeitig Anziehendes,
etwas, an dem man schnell vorbei ging, oder neugierig nachsuchte.

In der Karte war sie nicht eingezeichnet, wohl weil sie so klein war,
oder man nicht wollte, dass sie öfters besucht wurde.
Vielleicht war sie ja nur für die Leute in der Nachbarschaft,
die den langen Weg ins Tal nicht brauchten, um etwas zu beten, oder zu erbitten.

Ihre Tür war aus grobem Holz, das Witterungsrisse wie Blitze aufwies.
Unberechenbar gezackt sprangen sie um Astwüchse, verirrten sich im Silbergrau der Lärche,
um dann irgendwo wieder aufzuspringen.
Ich fasste darüber, und war über die Wärme des Holzes überrascht.
Ein ganzer Nachmittag schien auf ihrer Sonnenfläche zu schlummern.

Als wir uns bereits abwandten, um weiter zu gehen,
ging ich noch einmal zur Tür, drückte den Griff und hob sie mit der anderen Hand etwas an.
Sie ließ sich tatsächlich öffnen.
Heraus quoll kalte Luft, die sich sofort von der Hitze fangen ließ,
als hätte sie darauf gewartet.
Wir betraten das Innere der Kapelle, schlossen die Tür bis zum Anschlag,
so dass von Außen niemand leicht sehen konnte, dass sie nur angelehnt war.

Es dauerte eine Weile, bis sich unsere Augen an die Lichtverhältnisse im Innern gewöhnt hatten.
Es waren eher Schatten, die über die Stuhlreihen huschten.
Sie sprangen über den Boden, verweilten nicht einen Moment,
kamen durch die schmal schlitzigen Fenster, durch die die Sonne schien.
Die sprühenden Lichtpunkte waren aus Bernstein und Türkis,
aus einem tiefen Blau neben warmem Rubin, aus Geschichten,
die im Glas gefangen einen Hüpfer machten über eben jene Bänke und Böden,
die wir im ersten Blick sahen.

Fast gleichzeitig blickten wir beide nach vorn zum schlichten Holzkreuz.
Aufrecht stehend an nur einem Platz, mit dem Fuß
auf wenigen wichtigen Zentimetern, aufgerichtet wie der Turm.
Ich fühlte mich als Eindringling erkannt, in bewohnter Stube, ohne mich angemeldet zu haben.
Unbemerkt. Unterhalb des Kreuzes, dort wo normalerweise die abgewetzten Steine,
die kleinen Teppiche für die Frischvermählten, der Ort des Abendmahls stattfand,
lag aufgebahrt ...

... ein Mensch.

Er lag da, als wartete er darauf abgeholt zu werden, bewegt zu einem letzten Ort.
Er war aus einigen Metern so gut zu erkennen, denn der offene Sarg,
in dem er ruhte, stand leicht schräg zum Eingang hin.

Dem ersten Impuls, uns sofort aus der Kapelle zurückzuziehen, folgten wir nicht.
Wir gingen näher an den Sarg, den Atem ebenso anhaltend wie die alte Dame, als die es sich herausstellte.
Sie war bis zum Bauch mit einem schlichten Leinentuch bedeckt,
trug ihr weißes Kleid wie bei einer Hochzeit,
und hielt in ihren mondbleichen Händen mit den fliederfarbenen Fingernägeln Sonnenblumen.
Sie schütteten etwas Gold über ihren Hals,
ihre Blätter schienen die letzten Wochen zu bedecken, als sie noch mit ihnen sprach.
Aus ihrem Gesicht las ich eine völlig entspannte Freude.

Ich hatte den Eindruck, am Ursprung der Stille zu sein,
dort wo sie lautlos heraussprudelt, immer noch erzählend,
als lebte sie noch weiter, um irgendwann einmal zu bemerken, dass niemand ihr mehr zuhörte.
Nach einer Weile drehten wir uns um, und näherten uns der Tür,
die uns anfangs den Eingang verwehrte.

"Darf ich fragen, woher Sie kommen"?

Eine tiefe Stimme hallte von den Wänden, stoppte uns vor der Tür,
ließ uns erschauern und ganz langsam umdrehen.
Der Mann stand an einer der Säulen.
Er musste uns die ganze Zeit beobachtet haben.

"Aus Deutschland", antwortete ich, ihn ansehend.

"Sie ist von dort und unterwegs dahin", und deutete zum Sarg hin.

"Sie ist unterwegs".
 



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