Die wurzelige Weihnachtserinnerung
Inge erzählt:
Irgendjemand hat mal gesagt, Erinnerungen seien Wärmflaschen für die Seele.
Das kann ich bestätigen.
Meine "Wärmflasche" ruht das ganze Jahr hindurch im Keller in einer
Pappschachtel neben der großen Weihnachtskiste.
Meine "Wärmflasche" ist ein knorriger, splittriger, dunkelbrauner Wurzelstock,
bizarr geformt und doch so passend gewachsen, dass er ohne zu wackeln stehen
kann.
Von allem, was an Glanz und Glamour aus dem weihnachtlichen Kellersammelsurium
den Weg nach oben ins Wohnzimmer findet, ist er meine Lieblingserinnerung.
Obwohl er eine glückliche Erinnerung ist, begrüße ich ihn alljährlich mit ein
paar Tränchen,
bevor ich ihn dann lächelnd entstaube.
Warum das so ist, das will ich euch erzählen!
Meine Eltern, beide schon lange verstorben, waren Zeit ihres Lebens sehr
naturverbunden gewesen.
Sie liebten Waldspaziergänge, die meist mit mir als Kind stattfanden.
Sonntags war der Wald unser Wohnzimmer und das zu allen Jahreszeiten.
Im Sommer erklärten sie mir am Laub die unterschiedlichen Baumarten,
im Herbst sammelten wir für Bastelarbeiten Kastanien, Bucheckern und Eicheln
und im Winter ließen wir auf kleinen Feuerchen mit aufgelegtem feuchten Moos
kleine Rauchsignale aufsteigen.
So war es für mich als Kind kein Wunder, dass das Christkind bei uns an
Weihnachten
nicht in einem Stall unter dem Baum lag.
Es war ja im Wald in einer Wurzelhöhle geboren worden.
Mein Vater hatte heimlich große Wurzelstöcke ausgegraben und zu einer
Krippenlandschaft zusammengestellt.
Ochs und Esel standen im grünen Moos, die Hirten lagerten am Feuer zwischen
aufgestapeltem Holz
und die Schafe weideten hoch oben auf bergähnlichen Wurzelgipfeln.
Unter dem größten Wurzeldach aber bewachten Maria und Josef ihr neugeborenes
Kind.
Der Bau einer Wurzelkrippe war für mich im Laufe der Zeit eine liebevolle
Tradition geworden,
die sich auch fortsetzte, als ich erwachsen wurde.
Vor dieser weihnachtlichen Idylle haben sich mein Mann und ich vor langer Zeit
verlobt,
und es war auch wieder Weihnachten, als wir unseren gerade geborenen Ältesten
erstmals ins Elternhaus mitbrachten.
In der Wurzelkrippe standen damals zur Begrüßung des Christkinds - und auch des
neugeborenen ersten Enkels -
kleine rote echte Weihnachtssterne.
Mitte der 80-er Jahre wurde unser jüngster Sohn geboren.
Mittlerweile wohnten wir alle zusammen im neu umgebauten Elternhaus,
wo an Weihnachten nun zwei Tannenbäume standen, aber die großelterliche Krippe
blieb die Hauptattraktion.
Unser Jüngster machte sie zur Wurzelkrabbelstube und brachte den Großvater
schier zur Verzweiflung,
wenn er in die Höhle krabbelte, die Schäfchen neu verteilte und das Moos im
Wohnzimmer verstreute.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir alle lachten, als beim Pamperswechsel
sogar etwas Grünzeug aus seiner Strickhose herausfiel.
Die Jahre vergingen.
Die Enkel wurden erwachsen und die Energie des Wurzelkrippenbauers kleiner.
So dezimierte sich die Landschaft unterm Baum ganz allmählich.
Kurz bevor die Wurzeln endgültig entsorgt wurden, wählte meine Mutter einen
kleinen Strunk
aus den vielen aus und funktionierte ihn zu einem Weihnachtsgesteck um.
Mit einer Kerze, die von außen wie ein Birkenstamm aussieht,
frischem Tannengrün in den Wurzelspalten
und mit Sternen und Schleife schmückte sie eine kleine Deko für ihren
Wohnzimmertisch.
Ihr ahnt es schon!
Dieser kleine Wurzelknollen ist meine anfangs beschriebene „Wärmflasche“ zur
Weihnachtszeit.
Er hat mich von Kindheit an begleitet und ist ein Teil meiner eigenen
Weihnachtsgeschichte.
Auf warmherzige Art erinnert er mich an meine Eltern, die aus einfachen kleinen
Dingen
damals Weihnachtszauber für mich entstehen ließen.
Nicht der Protz teurer Christbaumkugeln und die Berge an Geschenken machen die
Weihnachtsfreude aus,
es ist die Geborgenheit elterlicher Liebe, die wir im Stall von Bethlehem jedes
Jahr wieder neu entdecken.
Mit den Dekoteilen von früher und der noch immer nicht abgebrannten Kerze wird
diese kleine übriggebliebene Wurzel
auch in diesem Jahr an Weihnachten mir glückliche und dankbare Erinnerungen
zurückbringen.
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