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18. Mai 2020

Heute: kleine Geschichten rund um das Schreiben.
Alle © Engelbert S.


Fast lautlos schreibt er mit seinem Bleistift auf dem karierten Papier.
Es muss kariertes Papier sein und es muss ein Bleistift sein. Härte HB.
Zettel für Zettel füllt sich mit Buchstaben, während er in seiner Gartenlaube sitzt.
All die Zettel werden sorgfältig auf die vielen anderen Zettel in seinem Schreibtisch gelegt.
Als wären sie eine Familie, die sich viel zu erzählen hat.
Irgendwann soll aus den Zetteln ein Buch werden.
Irgendwann.

 

Man glaubt fast, er ist ein Klavierspieler.
So virtuos fliegen seine Finger über die Tasten der PC-Tastatur.
Schwungvoll schreiben sie all das, was ihnen zufliesst.
Und es fliesst heute wieder so richtig, die Finger kommen kaum nach,
das zu schreiben, was der Kopf ihnen zufliessen lässt.
Irgendwann nach dem Finale gibt es einen letzten Anschlag
und das geschriebene Bild ist fertig.
Lächeln.
Zufriedenheit.

 

Der Papierkorb ist zur Hälfte gefüllt.
Mit geknüllten Zetteln, die keine Briefe werden wollen.
"Abschied" soll auf den Briefen stehen.
Aber "ich liebe dich" wollen die Finger schreiben.
Und so sind es Lügen, die zu Papier gebracht werden.
Oder Wahrheiten, die nicht lebensfähig sind.
Nächster Versuch:
Mein liebster Hallo Schatz Peter, ich muss Dir leider sagen schreiben,
dass wir uns nicht länger sehen ich liebe Mist.
Papierkorb

 

Sie schreibt immer, wenn sie unglücklich ist

Heute
hat sie
seit langer Zeit
mal wieder
nicht geschrieben

Sie schaut mit einem Lächeln
die Rose an
die gestern
noch nicht in der Vase stand

 

Laut hallen die Anschläge der Tastatur durch das Dachgeschoß.
"Er schreibt mal wieder" murmelt die Ehefrau in der Küche des ersten Stocks.
Sie weiß, dass es besser ist, ihn nun alleine zu lassen.
Ihn und die Inspektorin McCormick.
Die bestimmt auch heute wieder die kniffligsten Fälle aufklären wird.
Sie schaut nach oben und schüttelt den Kopf.
Wer genau hinschaut, kann den Anflug eines Lächelns sehen.

Wenn er wieder nach unten kommt, geschafft, aber glücklich,
ein paar Seiten geschrieben zu haben,
dann wird sie mit ernster Miene ihm sagen,
dass sie sich fragt, warum sie überhaupt verheiratet sind,
wenn er immer auf dem Speicher sitzt und nicht gestört werden will.

Was er nicht weiß und auch nicht wissen soll, ist,
dass sie, wenn sein neues Buch erscheint, einer der ersten Käufer sein wird.

Was sie nicht weiß, ist, dass er das weiß.

 


Einmal im Monat schreibt er einen Abschiedsbrief
Am Monatsersten
Immer auf eine andere Weise

- mit Kugelschreiber auf liniertes Papier
- in eine Mail im "nur Text"-Format
- auf kleine gelbe Zettel, die er an den Kühlschrank klebt
- mit Filzstift auf die Tapete im Schlafzimmer
- in Poesie-Form in ein Forum der dunklen Gedanken
- mit den Schatten seiner Finger an die Wand

Jeden Monat
anders
Wenn ihm keine neue Variante mehr einfällt
wird er von der Brücke springen

Doch, er lebt gerne
Es ist seine Art, Kreativität auszuleben

Oft ist er der Verzweiflung nahe, weil ihm nichts einfällt
Doch gestorben ist er noch nie
Auch wenn's manchmal knapp war

Und während er heute seine Abschiedsworte
als Aquarell auf eine Leinwand malt
sieht er glücklich aus

In 20 Jahren
240 Varianten später
wird er einen großen Preis bekommen

Man wird ihn
genial nennen
und verrückt

Er wird lächeln
und dem Redner seiner Laudatio
einen Abschiedsbrief auf die Stirn schreiben

Standing Ovations

 


Euch allen einen guten Start in die neue Woche :)).



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