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25. November 2020



1618
Eine Fachwerkkirche wird gebaut

1750
Die Kirche ist baufällig geworden.

1757
Eine neue schlichte Saalkirche ohne Fachwerk und ohne Turm wird gebaut.

1857
Auch diese Kirche hat nun schon Schäden.

1864
Die alte Kirche bildet den Grundstock für eine neue Kirche, wieder als Fachwerkkirche.

 



Ein Schmuckstück von einer Kirche.

1996-1998
Diese Kirche wird grundlegend renoviert.

Bis dahin ist ja noch alles in Ordnung ... aber nun:
Der aktuelle Pastor erinnert sich an einen Freund aus Studienzeiten.
Ein Freund, der die Fassade der Oberfinanzdirektion auf diese Weise neu gestaltet hat:



Und genau diesen Freund bittet er, die Kirche innen neu zu gestalten.

Das Ergebnis:

Viele Seelenfärbler rennen ganz schnell wieder aus dieser Kirche raus.

Es heißt:
"die außergewöhnliche Gestaltung des Innenraums war des Häufigeren Gegenstand von Diskussionen.
Als unruhig oder sogar Verschandelung werden die wiederkehrenden Kreuzformen kritisiert.
Angemerkt wird auch, dass zu wenige Flächen ohne Kreuze versehen seien.
Der Innenraum findet jedoch auch positiven Anklang und wird als beeindruckende Gestaltung beschrieben."

Okay ... wir sprechen von der Sonntagskirche vom 15. November:



Zumindest eines hat der Umgestalter erreicht:

 Die ungewöhnliche Gestaltung machte die Kirche für Touristen interessant,
sodass sie zu einer der meistbesuchten Kirchen der Region wurde.

Ich hoffe, Ihr seid noch da ... ich kann nämlich den Kirchenraum ein wenig erklären.
Die Grundlage dazu gibt mir der recht umfangreiche Wikipedia-Eintrag.

Ludwig Ehrler (der das verbrochen hat *gg*) hat die ganze Kirche
bis in den letzten Winkel mit einem logisch nüchternen Muster aus Kreuzen gefüllt.
Allüberall.

Die blau geschriebenen Texte sind aus Wikipedia ungeändert übernommen:

Doch Ehrler addiert nicht einfach nur eine Vielzahl von Zeichen in diesem Raum.
Die geometrische Anordnung der Kreuze trifft auf die vorhandene Architektur der Kirche.
Ihr Skelett – das Fachwerk – bleibt weiß.
Es greift somit in den Strom aus Kreuzen ein und fragmentiert es.
Dadurch entsteht ein geheimnisvolles Verbergen und Vibrieren,
ein vielgestaltiges lebendiges räumliches Gebilde.

Ich hab gemerkt, wie es bei vielen von Euch vibriert hat ;)).

Wikipedia erklärt weiter, was der Herr Ehrler sich gedacht hat:

"Das Ornament erzeugt kein Schweigen, denn alles scheinbare Chaos
drängt zur Suche nach der dahinter liegenden Ordnung,
alle Orientierungslosigkeit fragt nach dem "Woher" und "Wohin"
und alles Stückwerk treibt zur Ergründung von Sinn und Ganzheit.

Solltest du das jetzt nicht ganz verstehen ... du bist nicht alleine.
Ich finde diese Kirche ganz bemerkenswert einzigartig.
Aber ich kann hier keine dahinter liegende Ordnung erkennen.
Ich frage schon die Kreuze "woher" und "wohin" und bekomme die Antwort
"frag Ehrler" und "kann nicht weg".
Sinn und Ganzheit ergründen ... oh sorry ... Error ... bin dafür gehirninnerlich nicht geschaffen.

 Dieses Drängen, Fragen und Treiben ergibt sich nicht nur in der Kirche in Tripkau,
dieses Suchen ist ein Grundprozess der ganzen Kirche Christi und jedes einzelnen Gläubigen.

Nöö ... beten, sich nach den christlichen Werten richten, das ist es.
Die Christen drängen, fragen und treiben nicht ... man kann das Design der Kirche auch schönreden.
Ja, iss ja gut ... ich bin es, der das nicht versteht.
Vielleicht ist es ja dennoch da.

 Glauben heißt, im Exodus leben, heißt Altgewohntes verlassen.

Veto

Nicht ohne Grund schreibt Ehrler in seinen Erläuterungen zum Gestaltungsentwurf:
"Dieser sakrale Raum ist keine gemütliche Stube."

Da haste ein wahres Wort gesprochen und zu Papier gebracht.

Das suchende Unterwegssein ist kein Sonntagsspaziergang.
Wenn Kirche ein Unterwegssein unter dem Kreuz ist,
dann zeigt diese überbordende Tripkauer Kreuzesflut,
wie fröhlich und kraftvoll sich diese Bewegung darstellen lässt.

Guckt nochmal hin ... erkennst du, dass die Kreuzesflut fröhlich und kraftvoll ist ?
Nein ?
Dann verstehst du Herrn Ehrler nicht.
Oder Herr Ehrler versteht dich nicht.

Durch das gebrochene Kreuzraster verwandelt Ehrler
Licht und Spiegelungen, Logik und Statik, Farbe und Form
in Rausch und Schweben und schafft so einen Andachtsraum
voller Irritation und Festlichkeit.

Ich wäre vom Stuhl gefallen, wenn ein Kommentar zur Sonntagskirche
"hier ist es aber festlich" gelautet hätte.

Ich lasse Euch jetzt mal ganz unkommentiert
die "Zusammenhänge zwischen Gestaltung und Theologie" lesen.

Die Boden- und Deckenkreuze sind deckungsgleich.
Himmel und Erde entsprechen sich an diesem Ort.
Es deutet darauf hin, dass sich der Mensch als Geschöpf begreifen darf,
dass sein Anfang und sein Ende in Gott weiß.
"Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir." Psalm 139, 5

Die Kreuze verlaufen in alle Richtungen schräg.
Es ist, als streiche die Struktur der Kreuze ungebunden,
kraftvoll durch den Raum und über ihn hinweg.
Die Ungebundenheit, die im Kreuzmuster steckt,
weist auf etwas Allumfassendes hin gleich dem Heiligen Geist.
Die Dynamik im Muster und die Allgegenwart des Rasters deutet darauf hin,
dass Gottes Geist und Kraft für jeden da ist und auf alle übergehen wird.
"Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird". Apostelgeschichte 1, 8

Das Fachwerk ist weiß gelassen und überdeckt die Kreuzstruktur.
Vor oder in das allumfassende Kreuzmuster zeichnet sich die Struktur der Kirche.
Dadurch entsteht im Universellen gleichsam ein Abbild dieses Ortes.
Das allgemein Objektive (die Kreuzstruktur) bricht sich ins Subjektive (das Fachwerk) – anders gesagt:
Die Kraft des Heiligen Geistes, die Kirche Christi, die Liebe Gottes,
die es überall auf der Welt gibt, treffen an diesem Ort auf eine konkrete lokale Gemeinde.
Die Gestaltung verdeutlicht, dass beides nicht losgelöst von einander existiert.

Ein zweites wird deutlich: Die weißen Balken sind menschengemacht.
Sie tragen das Gebäude.
Sie stehen für menschliche Regeln und Taten, für die guten wie die schlechten.
Die Kreuzstruktur ist das, was alles Menschliche umarmt und darüber hinausgeht.
Alles Menschliche wird in einen Horizont aus Gold gerückt
und ermöglicht eine neue Wahrnehmung vom Menschen.
"Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin." 1. Korinther 13, 12

Ein drittes zeigt die Überlagerung, die Logik und Statik,
Farbe und Form in Rausch und Schweben versetzt:
Weder das Muster in der Kirche in Tripkau, noch die Gestalt der Kirche Christi,
noch das Sein Gottes offenbart sich ein für allemal.
Es muss sich auf dem Feld der Geschichte immer wieder aufs Neue selbst auslegen.
In der Selbstdeutung Gottes im Buch Exodus wird diese geschichtliche Dimension deutlich.
Die Textstelle lässt sich sowohl im Präsens mit "Ich bin, der ich bin",
als auch im Futur mit "Ich werde sein, der ich sein werde" übersetzen.

Das Kreuz am Altar ist Ausgangspunkt und Zentrum des Musters.
Die Struktur hat ihren Ursprung im Kreuz am Altar.
Damit wird alles zu einem Netz, das der Menschenfischer Jesus auswirft
und an das sich jeder klammern kann, der die Orientierung im Chaos zu verlieren droht.
Für jeden gibt es einen Platz und Frieden.

Die Kreuze in den drei Chorfenstern sind aus durchsichtig goldgelbem Glas umgeben von milchigem Grund.
Diese Kreuze sind die einzigen, durch die ein Blick in die Umgebung möglich ist.
Die reale Welt wird vergoldet.
Sie verweisen somit auf das zukünftige Leben.
Es wird strahlend hell und ist dennoch nur durch das Kreuz zu sehen.
Tod und Leid werden nicht aufgehoben – aber sie erscheinen im Licht der Auferstehung.
Das Neue und das Alte gelten zugleich, werden nicht aufgehoben, aber verwandelt,
wie bereits im Psalm 139,12 steht: "Finsternis ist wie das Licht"!

Ich weiß jetzt nicht, was mich mehr verwirrt ... die Kirche oder die Worte, die die Kirche erklären.
Wenn ich jetzt die Wahl hätte, draußen diesen Vortrag zu hören
oder wieder in die Kirche reinzugehen ... ihr würdet mich in der Kirche finden ;)).

Sehr sehr gespannt bin ich heute auf Eure Kommentare ...

Nachtrag: huch, hab vor lauterlauter ganz vergessen zu sagen, welche Kirche das ist.
Wir waren in Tripkau, das ist die evangelischen Kirche.
Tripkau ist ein Ortsteil der Gemeinde Amt Neuhaus und diese liegt im Landkreis Lüneburg.

 



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