Heilig Abend alleine ...

... Gise erzählt:

Es war im Jahr 2000.
Ich lebte damals mit meinen beiden Kindern
erst seit einem Jahr in einer Mietwohnung in einem Nachkriegswohnblock.

Mein Mann hat nach unserer Trennung zwei Jahre zuvor darum gebeten,
die Kinder alle zwei Jahre an Heiligabend bei sich haben zu dürfen.

Im Jahr 2000 war es dann soweit,
dass ich zum ersten Mal Heiligabend allein verbringen sollte.
Meine Kinder waren 13 und 10 Jahre alt.

Ich freute mich schon die gesamte Adventszeit hindurch
auf den Heiligabend nur für mich allein.
Kein Weihnachtsbaum, kein Friede-Freude-Eierkuchen-Getue, keine stundenlange Kocherei..
Einfach tun und lassen, worauf ich Lust hatte.
Ich wollte den Tag und den Abend ausschließlich vor dem Fernseher verbringen
und mir all die herrlichen Weihnachtsfilme anschauen.

Mit den Kindern um mich herum war es mir nicht möglich, auch nur einen Film zu schauen.
Wir drei waren damit beschäftigt, die Wohnung zu säubern,
den Baum zu schmücken, Geschenke einzupacken
und das Essen für den Abend zuzubereiten.
Der Fernseher blieb überwiegend aus oder lief unbeachtet nebenher.

Leider habe ich Tage zuvor meiner Nachbarin,
eine alleinstehende, rüstige Frau über 80,
auf ihre Frage nach meinen Plänen für Heiligabend wahrheitsgemäß geantwortet.

Sie schaute bestürzt:
"Was, der Vater nimmt ausgerechnet an Heiligabend die Kinder zu sich?!
Nein nein, das ist nicht schön, an Weihnachten müssen Mütter und Kinder zusammen feiern!"

Ich beteuerte:
"Das ist für mich vollkommen in Ordnung!
Mein Exmann und ich teilen uns die Erziehung der Kinder
und so hat jeder von uns die Möglichkeit, vom Ehepartner getrennt,
jedes Jahr abwechselnd mit den Kindern Weihnachten zu feiern.
Und ich freue mich schon wahnsinnig auf mein ganz persönliches Weihnachten!"

Die Nachbarin schüttelte betrübt den Kopf und ging murmelnd weiter:
"Nee nee, Heiligabend ohne die Kinder ist doch traurig, das gehört sich nicht ..."

An Heiligabend fuhr ich die Kinder mittags zu ihrem Vater.
Meine Tochter, die 13-jährige, fragte immer wieder nach,
ob es für mich wirklich in Ordnung sei, Heiligabend allein zu verbringen.
Sie wollte einerseits mit ihrem Vater und dessen Freunden feiern,
aber sie wollte mich andererseits nicht allein lassen.
Ich versicherte ihr immer wieder, dass sie sich um mich absolut keine Sorgen machen müsse.

Am Nachmittag bekam ich von meiner Tochter eine SMS (WhatsApp und Co gab es noch nicht):
"Mama, wie geht's dir? Ich hab voll das schlechte Gewissen."
"Kind, mir geht's gut. Ich schaue gerade einen total süßen Film im Fernseher an."
So ungefähr ging es in etwa alle Stunde.

Als es draußen dunkel war, klingelte es an meiner Wohnungstür.
Wer mochte es sein, wer störte mich denn in meinem schönsten Wohlfühlmoment?
Es war die alte Nachbarin mit einem Teller voller Gutsle:
"Ach, bevor jede von uns den Heiligen Abend allein und traurig verbringen muss,
können wir uns doch auch zusammen tun."

Sie freute sich diebisch, während ich von ihrem Erscheinen genervt war.
Damit Ihr Leser und ich uns richtig verstehen, die Nachbarin war eine
herzliche, liebe Frau und ich mochte sie echt gerne!
Aber nicht an diesem besonderen Tag, den ich doch ganz für mich allein verbringen wollte.
Ich habe mich zusammengerissen und mich ihr gegenüber genauso freundlich wie sonst auch verhalten.

Meiner Tochter, die mir immer wieder besorgte SMSse schickte, schrieb ich,
dass Frau W. überraschend hochgekommen sei.
Etwa zwei - für mich ewig lange - Stunden später ging die Nachbarin endlich in ihre Wohnung zurück.

Kurz darauf bekam ich wieder eine besorgte SMS von ... ratet mal. :-D

So langsam bekam ICH ein schlechtes Gewissen, dass meine Tochter
sich mehr um mich sorgte als mit ihrem Bruder und ihrem Vater den Heiligen Abend zu genießen.

Ich rief sie an.
Sie sollte an meiner Stimme hören, dass es mir wirklich gut ging
und dass sie sich voll und ganz auf Heiligabend mit ihrem Vater und allen,
die auch da waren, freuen soll und darf.

Das tat sie dann wohl auch, denn es kam keine SMS mehr.

Ich konnte endlich ungestört auf meinem Sofa in meiner Kuscheldecke eingewickelt
all die herrlichen und kitschigen Weihnachtsfilme im Fernseher anschauen ...

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