Eine Gute-Nacht-Geschichte
Immer wenn es Abend wurde
stand ich vor dem Hochbett mit dem Holzgitter,
durch das mich große Augen ansahen, auf die ab und an eine der
überquellenden Locken fielen,
wobei ihr Kopf zu Beginn der Zeremonie des Erzählens immer aufgerichtet
war.
Zumindest am Anfang.
"Erzähl mir eine schöne Geschichte" kam es hell durchs Gitter.
Erwartungsvoll, bestimmt und vom Blick begleitet den Kinder haben, wenn
sie einen durchbohren wollen.
"Ich möchte dir heute etwas vom Horizont erzählen.
Er ist dort, wo die Erde sich mit dem Himmel berührt,
wo die großen Wolken aufliegen wie das Federbett auf dir, mein Schatz.
Sie ziehen am Tag über dich hinweg, mal schnell, mal langsam und sind
manchmal sehr, sehr hoch.
Dann gibt es Tage, wo sie still zu stehen scheinen.
Es gibt auch welche, die dich in den Arm nehmen und du vor lauter Nebel
nichts mehr sehen kannst.
Wenn du in einem Flugzeug sitzt, kannst du sie durch die Scheiben sehen.
Jetzt berührt der Himmel die Wolken.
Früher waren die Menschen der Meinung, dass sie nur zum Horizont zu
gehen brauchten,
um an den Rand der Welt zu kommen, der dort steil abfiel und ins Nichts
führte.
Heute weiß Jeder, dass die Erde rund ist und es keine Kanten gibt, von
denen man herunterfällt."
Bis hierher hatte sie mir ruhig zugehört und mich nicht unterbrochen.
"Gibt es denn eine Stelle auf der Welt ohne Horizont?"
"Es ist wie mit deinen Armen. Wenn du sie um meinen Hals schlingst,
um mich lieb zu haben, berühren sie sich hinter meinem Kopf.
Wir können sie beide nicht sehen aber spüren.
Es ist mit vielen anderen Dingen so, die es tatsächlich gibt, die man
aber nicht sehen kann.
Wenn jemand keinen Horizont mehr sieht, kann er ganz traurig sein oder
sehr, sehr glücklich.
Eine Stelle ist da, wo deine kleine Seele wohnt.
Beim Glücklichsein schwebt sie über den Wolken, beim Traurigsein in den
Wolken.
Immer aber kommt sie heraus und findet den Horizont wieder, der ihr
zeigt wo du stehst.
Du kannst ganz sicher sein, dass sie dich findet, denn dich gibt es nur
einmal auf der ganzen Welt.
Sie wird dich nicht verwechseln und bei dir sein ..."
... ihre Augen waren geschlossen, und ihr Atem ging schon regelmäßig.
Ich hatte ihre Aufmerksamkeit in einer der Wolken sicher verloren, war
mir aber klar,
dass sie mich am nächsten Tag darauf ansprechen würde,
denn Kinder vergessen nichts, wenn es um ihre Seele geht.
[ Burkhard Jysch ]
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