Vaters große Reise 1945 + 1946
Folge 17
Gerlinde schreibt dazu:
Bereits zwischen dem vorletzten (17.2.45) und dem letzten (19.3.45) Brief
war eine große Pause – einen Monat lang haben die Eltern
nichts von ihrem Jungen gehört!
Und auch er hat nichts von daheim gehört!
Wie oft werden beide Seiten geschrieben haben?
Wie oft gehofft, dass die Post ankäme?
Wie sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen voneinander gewartet?
Wir können es uns nicht vorstellen, bestenfalls ahnen.
Möglicherweise kam die erste Meldung Anfang Mai im Erzgebirge an,
dass ihr Werner "in Gefangenschaft geraten, nicht verwundet" ist.
Ich habe nie erfahren, wie das denn passiert ist, dieses "in Gefangenschaft
geraten".
Aber da der 29.3.45 in mehreren Kriegsberichten als ein Tag der Übergabe
auftaucht,
vermute ich, dass es ohne Kampf geschehen konnte - dass so Menschenleben
gerettet wurde.
Es gab auch andere Übernahmen!
Nur wenige Briefe erreichen das Elternhaus - auch die Mitteilung, wo ihr Sohn
jetzt ist:
in Frankreich, gute 1000 km weit weg von daheim, etwa in der Mitte Frankreichs,
in der Nähe von Châteauroux ist er gefangen.
Wie begeistert war er losgezogen, seinem deutschen Vaterland zu dienen!
Und dann musste er sich klar machen, dass alle Entbehrungen nichts genützt
haben.
Dass er einem falschen Vorbild gefolgt war.
Seine besten Freunde hatte er verloren, viele gute Kameraden hatten ihr Leben
gegeben.
Wofür?
Für den Wahnsinn ...
Er sah das Leid in diesem Land, spürte auch oft genug den Hass der Einwohner.
Und konnte nichts ändern!
Gefangen in einer Welt, die ihm fremd war, die er sich nicht ausgesucht hatte,
mit einer unbändigen Sehnsucht nach daheim!
An eine Freundin der Familie schreibt er später über diese Zeit:
"[…] Nur ein Gedanke war im Moment der erkannten
Niederlage herrschend:
Wie sieht es in der Heimat aus und wann siehst du sie wieder!
Ich kam dann auf mein erstes Kommando zum Arbeitseinsatz.
Stumpf und gleichgültig ging die erste Zeit dort an mir vorüber,
Nachricht drang nicht durch, bei keinem, und so ging mir fast der Gedanke
"Heimat" verloren.
Bis zum 20. Dezember 1945.
Ich sitze im Pferdestall, meinem damaligen "Schlafraum",
und schreibe an meine Mutter, deren Geburtstag es war.
Ich nehme meine ganzen mir gebliebenen Fotos und breite sie vor mir aus
und da kommt es plötzlich über mich: Heimat! […]
All' das monatelang Zurückgedrängte, all‘ die alten Erinnerungen,
die alten Bilder, die Heimat stand wieder vor mir! […]
Von diesem Tag an ging es mit mir wieder aufwärts,
bis am 12. Februar 1946 endlich die erste Post von daheim kam,
eine Karte nur, aber mehr wie ein Klumpen Gold."
Wie glücklich er über diesen Gruß aus dem Elternhaus ist,
könnt ihr in seinem Brief vom 15.2.1946 lesen.
Was genau in diesem Jahr zwischen dem 20. und 21. Geburtstag geschehen ist,
werden wir nicht mehr erfahren.
Mit Freude und Leichtigkeit hatte es ganz sicher nichts zu tun.
Diese Erinnerungen aber sind mit Sicherheit Teil seiner Albträume geworden ...
1946 – offiziell war der Krieg vorbei.
Aber für viele Menschen noch lange nicht!
So viele Städte und Dörfer lagen in Schutt und Asche,
so viele Angehörige suchten einander, so viele Kinder und Eltern waren getrennt
worden,
so oft hofften Menschen, dass die Vermissten doch noch nach Hause kommen würden
...
Der Hass auf "die Deutschen" war in manchem unserer heutigen Nachbarländer
spürbar.
"Flucht" und "Vertreibung" sind ein Teil der Kriegsgeschichte.
Für den nun 21jährigen Werner ist es noch ein weiter Weg nach Hause ...
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