Gedanken zum Vater (der mit der Sonntagszeitung und den Brifen aus dem Krieg)

... von Gerlinde H.

Ich bin ein wenig traurig, dass wir am Ende der Briefe
und vor allem der Zeitung angekommen sind.
Ja, ich hatte diese Briefe und auch die Zeitung schon gelesen
– sie mit den Augen "Fremder" zu lesen, war noch einmal echt spannend
und dank eurer Kommentare auch sehr hilfreich für mich.

Die unlesbar gemachten Namen haben etwas damit zu tun,
dass es außer mir noch mehr Nachkommen in der Familie gibt … manchmal ist man stolz,
dazu zu gehören, aber es kann durchaus – warum auch immer – schnell mal unerwünscht sein.
Ehe falsche Schlüsse gezogen werden, habe ich mich daher für "ausblenden" entschieden.

Was ungeplant passiert ist – die letzte Zeitung erschien (hier im Lichtblick)
an einem denkwürdigen Tag für das kleine Waldkirchen,
Werners Heimatort im Erzgebirge:

Vor 77 Jahren, in der Nacht vom 14.2. auf den 15.2.1945,
wurden mehrere kleine Orte im Erzgebirge bombardiert.
Die Bomben fielen auch da, wo Werners Elternhaus stand.
Es wurde nicht "tödlich" getroffen, trug aber einige Wunden davon
– alle Fenster waren kaputt, das Dach und einige Zimmerdecken durchschlagen.

Großvater gehörte zur Betriebsfeuerwehr, konnte die Bombe ablöschen und sorgte dafür,
dass die Bewohner des Hauses versorgt waren und dann
war er im Ort unterwegs, zu retten, was zu retten ging.

Als mein Vater 1948 nach Hause kam, war das meiste repariert.
Im Haus lebten viele Familien – Menschen, deren Haus in der Bombennacht zerstört wurde
und Menschen, die durch den Krieg heimatlos geworden waren.
So nach und nach fanden alle einen Platz im Dorf oder zogen weiter.

Vater konnte wieder in dem Betrieb arbeiten, wo er vor dem Krieg gelernt hatte.
Schnell hatte er sich "eingefuchst" und arbeitete als Webmeister.

Mit Menschen zusammen arbeiten, das hat Vater stets Freude gemacht.
Viele junge Erwachsene, im Dorf geboren oder durch den Krieg im Ort "gestrandet",
arbeiteten in dem Werk.

Seine Erlebnisse und sein Versprechen nicht vergessend,
gab es bald eine christliche Jugendgruppe, die Werner leitete.

Mit der gleichen Begeisterung hat er als Ergänzung zur Betriebsfeuerwehr
eine Betriebs-Sanitätsgruppe aufgebaut.
Gemeinsam mit seinem Vater beriet er, wie dieses oder jenes
in der Fabrik oder im Ort verbessert werden könne.

Es war Aufbruchsstimmung im ganzen Land!
Mancher Nachmittag oder Abend wurde genutzt, um anderen zu helfen.
Es musste wieder aufgebaut werden, was kaputt gegangen war
bzw. ganz Neues geschaffen werden.

Anfang 1950 kam wieder eine junge Arbeiterin ins Werk, die angelernt werden sollte.
Der damalige Chef brachte sie zu Werner.
Sie war freundlich, flink, geschickt… sie gefiel dem Werner gut … und er gefiel ihr!

Schon bald entdeckten die beiden, dass sie nicht nur gute Freunde sein wollten,
sondern dass sie sich von Herzen lieb hatten.
Im Mai 1951 wurde Verlobung gefeiert.

Kurze Zeit später starb leider ganz unerwartet die von Werner,
seinem Vater und seinen Schwestern geliebte Mutter.
Alle, die sie kannten, waren traurig.
Mein Großvater war todunglücklich.

Heute, gut 70 Jahre später, kann ich kaum verstehen,
was damals ohne größere Diskussion beschlossen wurde:
Vaters Braut kündigte in der Weberei und sorgte fortan für die beiden Männer
in allen hauswirtschaftlichen Belangen:
kochen, putzen, waschen, Garten versorgen,
die betagten Schwestern des Großvaters versorgen…

Sie hat es ohne Murren mit großer Liebe getan!
Im Oktober 1951 wurde sie Werners Frau, im Dezember 1952 meine Mutter.

Nach einem reichlichen Jahr kam meine Schwester zur Welt – und als sie
ein Schulkind wurde, bekamen wir ein Brüderchen.
Wir waren eine sehr glückliche Familie!

Wir hatten einen Vater, der seine Frau bedingungslos liebte.
Vater konnte uns Vieles leicht verzeihen, aber wenn er erlebte,
dass wir unsrer Mutter nicht aufs Wort gehorchten oder gar frech antworteten,
wurde er sehr ärgerlich!

Da konnte man etwas von seinem (früheren) Jähzorn ahnen.
Es war eine der Eigenschaften, unter die er selbst sehr litt.
Bei Gott hat er Hilfe gesucht und gefunden und wir alle – Mutter und Kinder – sind dankbar,
dass er so sehr Gott vertraut hat und Gott ihm auf die verschiedenste Weise
zur rechten Zeit Hilfe geschenkt hat.

Nach der Hochzeit war Vater weiter in der Weberei beschäftigt.
Wegen seiner freundlichen und zuverlässigen Art war er beliebt
unter den Arbeitenden in der Firma.

Er zeigte klar und deutlich, dass seine ganze Arbeitskraft dem Betrieb gehört
– aber in seiner Freizeit war er unterwegs für Jesus:
er besuchte oder leitete Jugendbibelstunden im Ort und in der Umgebung,
besuchte den Gottesdienst, sang im Kirchenchor mit.

Die Entwicklung in der DDR Anfang der 50er Jahre brachte ihn zunehmend in Gewissenskonflikte.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Weberei und Spinnerei sollten mehr arbeiten,
die Planvorgaben wurden genau wie die Zahl der zu bedienenden Maschinen ständig erhöht.

Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit höherer Produktion war es
schlimmer als zu den Zeiten, wo der alte Besitzer noch das Sagen hatte.
Als Meister sollte Werner die Auflagen durchsetzen
und als Meister sollte er in die Partei eintreten…

Die Eltern berieten miteinander und beteten um Klarheit.
Eines Tages fiel die Entscheidung: Vater kündigte in der Weberei
und besuchte einen Lehrgang in einer Einrichtung
der evangelischen Kirche in der Nähe von Dresden.

Es war ein hartes Jahr für die Eltern.
Während des Krieges konnten keine Reichtümer angehäuft werden.
Die Familie meiner Mutter gehörte zu den Sudetendeutschen,
die sich nicht zu den Tschechen "bekannt" hatten und deshalb
ziemlich mittellos über Deutschland verteilt worden sind.

Und nun gab es ein verhältnismäßig geringes Geld,
von dem Vaters Bücher und ab und zu die Bahnfahrt bezahlt werden mussten,
aber auch Mutter und wir zwei Mädels leben sollten.

Mit dem festen Vertrauen, dass Gott ihnen durch die Zeit helfen wird,
haben die Eltern diese Ausbildungszeit von Vater begonnen
und nach einem Jahr war der junge Mann glücklich wieder daheim.

Als Katechet (heute würde man Religionslehrer sagen) konnte er
in der Kirchgemeinde im Nachbarstädtchen arbeiten.

Kindern und jungen Menschen, aber auch deren Eltern und den Senioren der Gemeinde
konnte er die frohe Botschaft von der Liebe Gottes vermitteln.
Er tat das so kreativ und fröhlich, wie ihr ihn in den Briefen
und vor allem in der Zeitung erlebt habt.

Ich habe ihn zweifelnd und fragend erlebt – aber nie mutlos
oder ohne Vertrauen in Gottes Hilfe.
Nie hat er vergessen, was er damals im Krieg Gott versprochen hatte:
"Wenn es dich gibt und ich hier lebend rauskomme, will ich dich vor aller Welt bezeugen."

Viele von euch interessierte es, ob Vater Kontakt zu "seiner" französischen Stelle hatte.
Nein, er hatte gelernt, französisch zu sprechen, aber nicht, französisch zu schreiben.

Im Frühsommer 1993 konnten meine Eltern bei Freunden in der Schweiz Urlaub machen.
Diese organisierten auch einen Ausflug in den Ort, wo Vater sein Zivilarbeiter-Jahr geleistet hat.
Nach kurzem Zögern der Bauernfamilie sei es ein freundlicher Austausch geworden.
Vater kam nicht mehr dazu, uns ausführlich darüber zu erzählen.
Als die Fotos der Freunde bei uns eintrafen, war Vater bereits beerdigt.

Mutter fehlte ihr Werner, ihr Liebster, in all den letzten Jahren sehr.
Sie hat sich an dem festgehalten, was uns Vater vorgelebt und durch seinen Grabstein
über den Tod hinaus vermittelt hat: "Haltet an am Gebet".

Wir Kinder haben sehr viel Liebe von unseren Eltern empfangen
und durften eine behütete Zeit erleben.
Unser Reichtum ist das Wissen um den himmlischen Vater und seine Liebe zu uns.
Es ist aber auch das Wissen, dass wir als Geschwister jederzeit füreinander da sind.



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