Eine Weihnachtsgeschichte von Seelenfärblerin Karin v.N.

Adventsfreude

Ein Donnerstagmorgen im Spät-Advent, fast schon fünf vor Weihnachten. Sie sitzt immer noch am Frühstückstisch, obwohl es eigentlich längst Zeit wäre, sich um den Haushalt zu kümmern. Träge ist sie, kommt nicht hoch. Liest die Zeitung und heult beim Studium der Traueranzeigen in der Zeitung.

"So etwas kann auch nur Frauen passieren" würde ihr Mann grinsend feststellen. Ja, das könnte stimmen, geht es ihr durch den Kopf, während sie darüber nachdenkt. Wieder und wieder - wie so oft in der Vergangenheit - flucht sie insgeheim, fummelt ihr Taschentuch aus der Hosentasche und versucht die Tränen zu trocknen. Diese ewige Heulerei! Bei ihrer Mutter Katharina hat sie es früher schon sehr gestört. Die konnte nämlich auch ständig heulen. Für sie als Tochter bei nicht nachvollziehbaren Gelegenheiten und aus nicht ersichtlichen Gründen. Heute tut sie still Abbitte für ihre damalige Meckerei, wenn sie selbst wieder einmal ohne ersichtlichen Grund heulen muss. Verzeih, Katharina!

*

Draußen ist es frostig kalt. Glitzernder Raureif hat die Vorgärten und Hecken überzuckert. Die strahlende Sonne lässt die Kristalle leuchten, bevor sie schmelzen. Eine aufgeplusterte dicke Amsel zankt sich mit ihrem Männchen um die letzten Beeren der Berberitzenhecke. Vorbeigehende Leute haben kleine weiße Atemwölkchen vorm Gesicht und allen merkt man die Eile an, mit der sie ihrem Zuhause entgegenhasten. Sie hat auch noch so viel zu erledigen und sitzt immer noch lethargisch wie festgeklebt auf ihrem Stuhl. Die sonst motivierende

Advents-Stimmung fehlt ihr eigentlich auch, obwohl sie wie jedes Jahr die Räume geschmückt hat. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer ist wieder das Weihnachtsdorf aufgebaut welches in der Dämmerung von innen beleuchtet doch eine heimelige Atmosphäre schafft.



Auch die Weihnachtsspieluhr auf dem Tisch spielt mit zauberhaftem Klang die Melodie: "Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen".

Irgendwie fehlt trotzdem der Antrieb. Gerade schiebt die Postbotin ihr Fahrrad-Ungetüm in die Garageneinfahrt und kramt in ihrer großen Tasche. Die Briefkastenklappe rappelt und geräuschvoll fällt ein großer brauner Umschlag in den Flur. "Was ist das schon wieder?" denkt sie, "mit Kalendern sind wir jetzt doch reich gesegnet". Überall wird gespart an Weihnachts- Präsenten hat sie festgestellt. Es ist nicht mehr wie früher, als noch Lachs und Wein zum Fest verschickt wurde als "Anerkennung für die gute Zusammenarbeit im abgelaufenen Geschäftsjahr". Dafür fehlt den Firmen wohl heute das Geld.

Jetzt steht sie doch vom Stuhl auf, nimmt den Briefumschlag hoch und schaut auf den Absender. Ihr Cousin aus Osnabrück ist der Versender und in dem Umschlag ist irgendwas Rechteckiges unter der Polsterfolie zu ertasten. "Neugier, dein Name ist Weib" hat ihr Vater früher immer gesagt, der für alles seine Sprüche hatte. Schnell nimmt sie kurzerhand das Küchenmesser und öffnet den Umschlag. Heraus kommt ein Weihnachtsbuch mit " Geschichten aus schwerer Zeit". Im beigefügten Brief hat ihr Cousin geschrieben, dass er die Geschichte auf Seite 44 für eine der schönsten in diesem Buch hält.

Ohne zu zögern fängt sie sofort an zu lesen und bei der Geschichte von den Soldaten die irgendwo in Ostpolen während eines Truppen- Transportes Weihnachten einem polnischen "Engel" begegnen, fängt sie schon wieder an zu heulen. Die Tränen laufen und es werden mehrere Taschentücher gebraucht. Eins allein reicht nicht. Aber: trotz der rotgeheulten Augen die ihr im Dielenspiegel entgegenschauen fühlt sie sich auf einmal großartig. Warme Dankbarkeit hat sich breit gemacht in ihrem Innersten, dass es ihr so gut geht und sie ist bemüht, das Vorwort dieses Weihnachtsbuches zu beherzigen, zur Besinnung zu kommen und das Wichtigste festzuhalten, was wir Menschen uns zu allen Zeiten geben können: Liebe und Frieden.

Vor ein paar Jahren hat sie angefangen, die schönsten Geschichten aus einem Weihnachtsbuch abzuschreiben um sie dann, zusammengerollt mit einem roten Bändchen versehen, heimlich an ihre Nachbarn zu verteilen. Bisher hat sie es noch nicht geschafft, das auch dieses Jahr zu erledigen. Jetzt nimmt sie es sofort in Angriff. Vielleicht kann sie damit etwas von der Wärme in ihrem Herzen weitergeben und auch eine Weihnachtsfreude verschenken. Wer weiß?

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